Patrick Clastres ist ein ausgewiesener Kultur- und Politikhistoriker mit besonderem Interesse an Konzepten wie Neutralität, Autorität und Internationalität. In seinem jüngsten Werk, das sich mit der 130-jährigen Geschichte der Olympischen Spiele von 1892 bis 2024 befasst, gelingt ihm eine beeindruckende Synthese aus faktenreicher Dokumentation, kritischer Analyse und tiefgehender Interpretation. Sein Buch versteht sich nicht lediglich als chronologischer Überblick, sondern als ein Werk, das die Olympischen Spiele als Spiegel weltpolitischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen lesbar macht.
Die Struktur des Buches orientiert sich an sechs chronologisch aufeinanderfolgenden Phasen, die die Entwicklung der Olympischen Spiele unter verschiedenen thematischen Leitmotiven gliedern: »Experimentieren« (1896–1912), »Instrumentalisieren« (1920–1936), »Globalisieren« (1948–1964), »Vermitteln« (1968–1984), »Professionalisieren« (1988–2008) und schließlich »Hybridisieren« (2012–2024). Diese Einteilung erlaubt nicht nur eine analytische Reflexion über die jeweilige Zeit, sondern hebt auch die Brüche, Kontinuitäten und Transformationsprozesse hervor, denen das globale Sportereignis unterworfen ist.
Clastres verschweigt nicht, dass die Fortführung der Spiele zu mehreren Zeitpunkten ernsthaft in Frage stand. Ihre kontinuierliche Austragung – ein zentrales Anliegen des Begründers Pierre de Coubertin – war keineswegs selbstverständlich. Vielmehr zeigt sich in der Geschichte der Spiele ein permanentes Ringen um Legitimität, politische Unabhängigkeit und moralische Integrität. Trotz teilweise lückenhafter Quellenlage und divergierender Forschungsstände gelingt es Clastres, die Kapitel bemerkenswert ausgewogen zu gestalten.
Besonders hervorzuheben ist der kritische Blick auf die Geschichte der Organisation selbst: Die Narrative des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) werden dekonstruiert, ihre historiografische Glaubwürdigkeit auf die Probe gestellt. Gleichzeitig gelingt es Clastres, die Athletinnen und Athleten – oftmals marginalisierte Figuren im offiziellen Diskurs – ins Zentrum seiner Darstellung zu rücken. Dabei richtet er seinen Fokus nicht allein auf bekannte Sportikonen, sondern widmet sich mit besonderem Engagement auch den weniger prominenten Sportlerinnen und Sportlern, insbesondere jenen vor 1968, sowie den Pionieren und Pionierinnen aus Ländern des Globalen Südens, deren Teilhabe an den Spielen Ausdruck einer sich wandelnden geopolitischen Ordnung war.
Ein besonderer Verdienst des Buches liegt darin, keine lineare Fortschrittsgeschichte zu erzählen. Vielmehr dokumentiert Clastres auch Rückschritte, Widersprüche und Konflikte innerhalb des olympischen Integrationsprozesses. Die stete Veränderung der olympischen Statuten, etwa in Bezug auf die Definition des Olympismus, die Bekämpfung von Doping und Korruption, die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, die kolonialen Altlasten sowie die Rolle von Sponsoren und Medien, spiegelt die Spannungsfelder wider, in denen sich die Spiele bis heute bewegen.
Zentrale These von Patrick Clastres ist, dass der Sport in seiner olympischen Form keineswegs ein Garant für internationalen Frieden sei, sondern häufig als Bühne für nationalistische Interessen diene. Zur Untermauerung dieser These analysiert er zahlreiche politische Spannungsfelder, die sich in den Spielen niederschlugen: Boykotte, Alternativwettkämpfe und Ausgrenzungen – all dies wird kontextualisiert und mit der weltpolitischen Lage in Beziehung gesetzt. Besonders eindrücklich sind seine Ausführungen zu verdrängten oder bewusst ausgeklammerten Ereignissen, die im offiziellen IOC-Narrativ kaum Beachtung finden.
Weitere sensible Themen, denen sich Clastres mit sicherem Urteilsvermögen nähert, sind der Antifeminismus in der Coubertinschen Gründungsphase, die problematische Entnazifizierung des IOC nach dem Zweiten Weltkrieg sowie dessen lange Zeit konservativ-eurozentrischer Charakter. In diesen Bereichen leistet das Werk einen wichtigen Beitrag zur kritischen Selbstreflexion des globalen Sportsystems.
Zwar liegt der Schwerpunkt auf der historischen Entwicklung und weniger auf medialen Inszenierungen – die visuelle Dimension der Spiele bleibt unterrepräsentiert – doch bietet das Werk umfangreiche Literaturverweise am Ende jedes Kapitels. Diese ermöglichen eine vertiefende Beschäftigung mit Einzelaspekten. Ein umfassender Index erleichtert zudem die gezielte Recherche. Für Forschende wie auch interessierte Leserinnen und Leser ist das Buch damit ein wertvolles Instrument.
Clastres stellt die Olympischen Spiele nicht als exakte Spiegelbilder gesellschaftlicher Realitäten dar, sondern als eigenständige Mikrokosmen. Diese existieren im Wechselspiel mit der Weltpolitik, sind durch sie geprägt und wirken umgekehrt auf sie zurück. Der Autor vermeidet dabei jede Form der Idealisierung: Er zeigt die Spiele als durch und durch ambivalente Ressourcenensembles, die politische, ökonomische und kulturelle Interessen bündeln.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Clastres hat weit mehr als ein Nachschlagewerk verfasst. Vielmehr bietet er eine fundierte und multiperspektivische Darstellung der Olympischen Spiele, die bestehende Forschung integriert, kritisch befragt und neue Impulse setzt. Das Buch ist ein unverzichtbares Grundlagenwerk für alle, die sich mit der Geschichte, Politik und Kultur des Sports im 20. und 21. Jahrhundert auseinandersetzen wollen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sandra Klos, Rezension von/compte rendu de: Patrick Clastres, Les Jeux olympiques de 1892 à 2024: une aventure mondiale, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2025, 464 p., ISBN 978-2-7535-9645-0, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112782





