Inspiriert von der Bewegung der sogenannten Gelbwesten und ihrem Versuch, den Stimmen der einfachen, sich abgehängt fühlenden Menschen in Frankreich öffentlich Gehör zu verschaffen, versteht sich der zu besprechende Sammelband, hervorgegangen aus einem 2018 in Montpellier veranstalteten Kolloquium, als Versuch, mit den vielfältigen sprachlichen Äußerungsformen einfacher Menschen während des Ersten Weltkriegs eine andere historische »grande prise de parole« in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, wie Frédéric Rousseau in der Einleitung erläutert, mit der bislang kaum untersuchten Vielfalt der »correspondances, carnets, journaux intimes et autres récits des hommes et des femmes« während des Krieges über die bisher in den Blick genommenen Äußerungen »der Eliten allein« hinauszukommen; sie entweder zu ergänzen oder zu konterkarieren. Auch wenn die überwiegend eher in sprach- und kultur- denn in geschichtswissenschaftlichen Kontexten beheimateten Autorinnen und Autoren dabei weitgehend über einen national wie international inzwischen hoch entwickelten, sozial- und alltagsgeschichtlichen Forschungsstand zu den Kriegserfahrungen »kleiner Leute« hinweggehen, gelingt es ihnen doch, den Blick für die Möglichkeiten vielfältiger, thematisch einschlägiger Quellengattungen, Perspektiven und Einblicke zu weiten.

Im ersten Kapitel werden zwei bisher vernachlässigte Quellengattungen und zwei besondere Korrespondenzen vorgestellt. Christine Nougaret untersucht die Testamente, die von den poilus vor dem Aufbruch an die Front massenhaft niedergelegt wurden. Da es sich dabei jedoch nicht nur um sehr knappe, sondern zumeist auch standardisierte Formulierungen handelt, sind die Erkenntnisse, die aus dieses »témoignage mémoriel donnant à entendre les voix d’anonymes« inhaltlich eher begrenzt. Das gilt ähnlich auch für die von Sybille Große und Britta Lange untersuchten »archives sonores des prisonniers de guerre français en Allemagne«, die der Berliner Psychologieprofessor Carl Stampf 1916 bis 1918 erstellt hat. Ihr Quellenwert ist wohl tatsächlich mehr in der Erschließung von sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen über die vielfältigen, in der französischen Armee gesprochenen Dialekte zu sehen als in Einblicken in die Bedingungen und Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft.

Es folgen zwei Aufsätze, in denen mit persönlichen Beständen von Feldpostbriefen eine seit langem zentrale Quellengattung nicht nur für soldatische Kriegserfahrungen, sondern auch für das Leben an der Heimatfront zum Gegenstand wird.1 Cyrielle Lévêque und Aurélie Michel setzen sich am Beispiel des aus dem 1871 annektierten Reichsland Elsaß-Lothringen stammenden, in die deutsche Armee eingezogenen Soldaten Eugène Bernard mit dessen »double culture allemande et française« auseinander – leider ohne dies mit den schon vor längerer Zeit veröffentlichten Erinnerungen des elsässischen Soldaten Dominik Richert abzugleichen.2 Jean-Pierre Cavaillé stellt die Kriegskorrespondenz des jungen Ehepaares Amélie und Émile Quentin vor, in der vielfältige Aspekte und Probleme des Lebens an Front und Heimatfront aufscheinen.

Ausgehend von einem allgemeinen Überblick über die Wandlungen der Figur des »gemeinen Zeugen« in der französischen Weltkriegshistoriografie von Odile Roynette, präsentiert das zweite Hauptkapitel fünf verschiedene Studien über Kriegserfahrungen »kleiner Leute« und ihre diskursive Gestaltungsformen. Das Spektrum ist weit und vielfältig: von einer Problematisierung des Begriffs am Beispiel des carnet de guerre des Fassbauers, Unteroffiziers und Schriftstellers Louis Barthas (Rémy Cazals) bis zum Kriegsengagement bürgerlicher Frauen in Paris und auf dem Lande (Pierre Allorant); von Schülerinnen aus Boulogne-sur-Mer (Magali Domain), die als »marraines de guerre« mit französischen Soldaten bzw. Kriegsgefangenen in Deutschland korrespondiert haben, über die nachträgliche Ideologisierung des jugendlichen Gefallenen Jean-Correntin Carré zum »plus jeune héros de la guerre« durch den Historiker und Journalisten André Fontaine (Laurence Olivier-Messionier) bis zur Analyse des »patriotisme ordinaire« im Spannungsfeld von offiziellen Meldungen und Gerüchten am Beispiel der Kriegskorrespondenz eines jungen Grundschullehrers mit seiner Freundin (Michel de Fornel und Maud Vernier).

Die Beiträge im dritten und letzten Kapitel sind unter dem Titel »Le travail ordinaire de l’écriture« schließlich dem Schreiben von nur begrenzt literalisierten Menschen im Krieg, seinen Bedingungen und Formen gewidmet. Im ersten Beitrag arbeitet Sonia Branca-Rosoff nicht nur die schriftsprachliche Dominanz der französischen Sprache gegenüber den gesprochenen Dialekten heraus, sondern sie zeigt mit ihrer Untersuchung der Anfangs- und Endformeln von Feldpostbriefen auch die Konzentration auf wesentliche Grundfragen wie Gesundheit, Alltagssorgen und Tod, bevor sie eindringlich die immer wieder hervortretenden Wahrnehmungen einer abgeschnittenen Zukunft, einer »temps circulaire« und ihrer »languitude« herausarbeitet. Jean-Michel Géa interpretiert das Schreiben von Feldpostbriefen, ausgehend von den Machtkategorien Michel de Certeaus, als Möglichkeit der poilus, sich »petits instants de liberté sur un terrain dominé par les impératifs de l’autorité et de la discipline« anzueignen. Stéphanie Fonvielle und Cristian Surcouf beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit der Bedeutung von Streichungen bzw. der Orthografie im Spannungsfeld von gesprochener und geschriebener Sprache in den Feldpostbriefen einfacher Soldaten. Eine besondere inhaltliche Schwerpunktsetzung hat schließlich der Beitrag von Julie Tissier, die sich mit den Feldpostbriefen von Olivier Chatellier beschäftigt, einem jungen Zouaven, der als in Frankreich geborener Sohn schwarzer Hausdiener 16-jährig in das neu geschaffene Zouavenregiment eingetreten und 1916 bei Verdun umgekommen ist. Seine Briefe an die Eltern waren, wie gezeigt wird, zum einen Ausdruck der üblichen Berichte von der Front. Sie zeichneten sich zugleich aber durch ein entschiedenes Bemühen aus, »à rendre l’image du quotidien au front véritablement exceptionnelle par un style narratif nouveau«.

Insgesamt bietet das Buch so viele interessante Ansätze für eine soziale und thematische Erweiterung quellengeleiteter Untersuchungsperspektiven zur Erfahrungsgeschichte einfacher Menschen im Ersten Weltkrieg, ohne indes in systematischer Weise konzeptionelle Überlegungen für ihre übergreifende Interpretation und Einordnung zu entwickeln.

1 Vgl. auch methodisch grundlegend Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Tübingen 1997.
2 Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, hg. v. Angelika Tramitz und Bernd Ulrich, München 1989.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Kruse, Rezension von/compte rendu de: Gomila Corinne, Agnès Steuckardt, Chantal Wionet (dir.), Gens ordinaires dans la Grande Guerre. Correspondances, récits, témoignages, Paris (Éditions de la Maison des sciences de l’homme) 2024, 304 p. (Collection »54«), ISBN 978-2-7351-29577, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112783