Stalin ist »wieder da«, meldeten die Zeitungen, als in der Moskauer Metro-Station Taganskaja die Nachbildung eines dort vor neun Jahrzehnten errichteten und vor 60 Jahren entfernten Reliefs reinstalliert wurde, das Josef Wissarionowitsch Stalin überlebensgroß in »Dankbarkeit des Volkes gegenüber dem Führer und Kriegsherrn« wiederauferstehen lässt. Dabei war Stalin an anderen Orten »niemals weg«, in seinem Geburtsland Georgien so wenig wie an der Kremlmauer. Dass er 1961 aus dem Lenin‑Mausoleum in eine gesonderte Grabstätte umgebettet worden war, gehört zu dem Vorgang, den die Herausgeberinnen als »Dé‑commémoration« bezeichnen. Wie im Fall Stalin ist das in der Regel keine einmalige damnatio (oder restitutio) memoriae und sie erfolgt auch nicht linear, vielmehr als ein langer und in sich widersprüchlicher Prozess. Stalin wurde zu Lebzeiten und nach seinem Tod 1953 in allen möglichen Formen verherrlicht, dann nach der »Geheimrede« Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 dem partiellen Vergessen anheimgegeben und in der Ära Putin nicht als Bolschewik, aber als siegreicher Feldherr gegen den Faschismus rehabilitiert. Gleichzeitig aus Russland vertrieben wurde die Gruppe Memorial, die stalinistische Verbrechen aufgeklärt und postsowjetische Menschenrechtsverstöße angeklagt hatte und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete worden war.
Nach Wladimir Iljitsch Lenin waren auch in der ehemaligen DDR Dutzende Denkmäler und Straßen benannt. In dem vorliegenden Band vergleicht Dominique Colas (CNRS) das Schicksal der Lenin‑Statuen in Russland und in der Ukraine. Rund 5500 Monumente wurden nach dem Maidan-Aufstand beseitigt, radikaler Leninopad zur gründlichen »Entkommunisierung« des Landes, das sich nach Westen orientierte. Anders als in der Ukraine, den baltischen Staaten und Armenien blieben die nach 1917 und 1924 an Stelle zaristischer Statuen und vor allem in den 1970er-Jahren geschaffenen Lenin-Memorabilien in der Russischen Föderation nach 1991 (und in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten) unangetastet. Doch auch dort veränderte sich ihre Symbolik in großrussischer und russisch-orthodoxer Richtung, die sterblichen Überreste des bolschewistischen Revolutionärs waren nun kompatibel mit religiösen Reliquien in den wieder eingeweihten Kathedralen.
An solchen Wendungen wird deutlich, dass nicht erst die von unten durch Bürgerproteste oder von oben durch Verwaltungsmaßnahmen erwirkte »Korrektur« kollektiver Erinnerung eine Dekommemoration darstellen, sondern a priori jede in Artefakten materialisierte bzw. in Diskursen symbolisierte Erinnerung eine Richtung vorgibt und eine Kursänderung darstellt, die von der jeweiligen Öffentlichkeit akzeptiert, ignoriert oder skandalisiert werden kann. Die gemeine Praxis ist ohnehin, dass Denkmäler und Straßennamen im Lauf der Jahre kaum noch registriert werden.
Die Vielgestaltigkeit der weltweiten De- und Rekommemorationen erfassen die Herausgeberinnen Sarah Gensburger (SciencesPo, Paris) und Jenny Wüstenberg (Nottingham Trent University) in fünf Dimensionen: »Dekommemoration und Regimewechsel«, »Dekommemoration und soziale Transformation«, »Dekommemoration als Motor des Wandels«, »Dekommemoration als ›écran de fumée‹« (Nebelwand), »Dekommemoration als Herausforderung für das Gedächtnis«. Es ist mir nicht möglich, 44 Einzelbeiträge von Vertretern und Vertreterinnen unterschiedlicher Disziplinen über Fälle vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart aus knapp 30 Ländern detailliert zu bewerten, so dass ich mich auf wenige exemplarische Fälle konzentrieren will.
Ein typischer Regimewechsel war das Umtaufen von Städte- und Straßennamen im postkolonialen Algerien, das Amar Mohand‑Amer (Oran) rekapituliert. Namensgebungen im Zuge des ersten, kolonialen Regimewechsels ab 1830, die der topografischen Erschließung durch die Kolonialtruppen und der gezielten Franzisierung und Christianisierung des gesamten Territoriums gedient hatten, wurden ab 1962 durch arabische Bezeichnungen revidiert, ein Prozess, der im »Land der 40 000 namenlosen Straßen« (El-Watan) allerdings noch lange nicht abgeschlossen ist. Der Defekt dieser sekundären Dekommemoration bestand darin, dass die Konzentration auf »Märtyrer/innen« (chahid/a) der FLN-Befreiungsbewegung zwischen 1954 und 1962 erneut der Legitimation von Herrschaft diente, weshalb überkommene Bezeichnungen weiterhin inoffiziell im Gebrauch blieben, darunter solche aus der Kolonialzeit, die das algerische Volk doch vergessen sollte.
Wie sozialer und kultureller Wandel De- und Rekommemorationen bewirken, zeigt eine Fallstudie über das postkoloniale Agenda‑Setting zur überfälligen Thematisierung der Herkunft der Reichtümer der Stadt Bordeaux und ihrer Einwohner aus dem Sklavenhandel (Carole Lemee). Gegenläufig ist die Initiative eines belgischen Dorfes, die Erinnerung an ein Massaker deutscher Truppen an Einwohnern des Dorfes Spontin im August 1914 mit einem »Verfallsdatum« zu versehen und nach über 100 Jahren zu beenden (Nicolas Moll). Wenig bekannt ist in Europa, wo es ebenfalls umstrittene Nationalhymnen gab und gibt, der Streit um die koreanische Hymne »Aegukga«, der wegen der möglichen NS‑Verstrickung ihres Komponisten Eak-tai Ahn und Plagiatsvorwürfen eine »de-commémoration sonore« verordnet wurde (Bae Myo‑Jung).
Die weiteren, meist kurzen und überwiegend deskriptiven, bisweilen auch deutlich wertenden Fallstudien erörtern gelungene und gescheiterte Erschütterungen, Bestätigungen und Restitutionen kollektiver Gedächtnis- und Erinnerungskulturen. Ein übereifriger sogenannter »wokism« hat sich jüngst auf das restlose Abräumen von Statuen und das Streichen von Denominationen rassistischer und kolonialistischer Akteure verlegt, auch wo eine aufklärende Kontextualisierung angebracht gewesen wäre. Dieser Aktivismus provozierte Gegenwehr, zum Beispiel das Vorhaben ultrakonservativer Tories, die vor Jahrzehnten verlegte Statue des »Gordon of Khartoum«, eines im Mahdi-Aufstand in Sudan geköpften britischen Generals, auf den Trafalgar Square zurückzuholen. Dieser Fall demonstriert, wie sich Kulturkämpfe wechselseitig radikalisiert haben (Stuart Burch).
Die Verunsicherung »weißer« hegemonialer Identitätskonzepte provoziert neo-nationalistische »Great Again«-Initiativen auch demokratisch gewählter Regierungen wie in Ungarn und den USA, die sich an die »patriotische« Säuberung« von Geschichtsmuseen gemacht haben. Während der »wokism« einen legitimen Kern hat, ist der »anti-wokism« zumeist nur eine propagandistische Ablenkung von Regierungsversagen und illegitimen Herrschaftsansprüchen. Der Band bildet das Spektrum des geschichtspolitischen Revisionismus ab und kann damit die Memory-Debatte versachlichen und voranbringen, wobei der Einfluss digitaler Plattformen und künstlicher Intelligenz auf die Uminterpretation historischer Ereignisse und die Manipulation der kollektiven Erinnerungen hier noch nicht berücksichtigt ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Claus Leggewie, Rezension von/compte rendu de: Sarah Gensburger, Jenny Wüstenberg (dir.), Dé‑commémoration. Quand le monde déboulonne des statues et renomme des rues, Paris (Fayard) 2023, 448 p. (Divers Histoire), ISBN 978-2-213-72205-4, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112793





