Richard Coudenhove-Kalergi, Gründer der »Paneuropa«-Union und »Vorkämpfer« der europäischen Verständigung seit den 1920er‑Jahren, gehört zu jenen Persönlichkeiten, die immer wieder im Interesse der historischen Forschung stehen. Dabei kann die Rezeptionsgeschichte seines Wirkens mittlerweile selbst historisiert werden: Zu Lebzeiten durchaus umstritten und in zahlreiche persönliche Konflikte verstrickt, wurde Coudenhove-Kalergi nach seinem Tod im Jahr 1972 zu so etwas wie einem »Säulenheiligen«, zum »Gründervater« Europas. Dabei hatte das Bild, das von ihm in dieser Phase gezeichnet wurde, mit seinem eigentlichen Wirken oft kaum mehr etwas zu tun. Erst um die Jahrtausendwende erschienen Studien, die Leben und Wirken des »Paneuropäers« historisch rekonstruierten und kontextualisierten. Seither sind immer wieder neue Arbeiten zu Richard Coudenhove-Kalergi erschienen.
Dennoch gab es bisher eine große Lücke in diesem historischen Wissensstand: Coudenhove-Kalergi suchte lebenslang nach dem einen Politiker, der »Paneuropa« mit starker Hand verwirklichen würde. Dies führte dazu, dass er sich im Laufe der Jahre ganz unterschiedlichen politischen »Hoffnungsträgern« verschrieb. Dazu gehörte auch eine Annäherung an Benito Mussolini und den italienischen Faschismus vor allem in den 1930er-Jahren. Bisher jedoch lag keine genauere Untersuchung zu diesem »faschistischen Paneuropa« vor. Diese Lücke schließt nun die vorliegende Studie von Michael Thöndl.
Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte »Paneuropas« und in das Leben Coudenhove-Kalergis, konzentriert sich Thöndl darauf, in chronologischer Perspektive das Verhältnis des »Paneuropäers« zum faschistischen Italien nachzuvollziehen. Bis 1932 blieben Coudenhove-Kalergis Bemühungen um eine Beteiligung Italiens an der Paneuropa-Union weitgehend erfolglos. Dies hatte unter anderem mit der Tatsache zu tun, dass auf dem ersten Paneuropa-Kongress 1926 führende Antifaschisten eingeladen gewesen waren, was in der Folge zu einem angespannten Verhältnis Roms zu Coudenhove-Kalergi führte. Seine Unterstützung des Briandschen Europaplans verstärkte die Skepsis in Italien, wo man Coudenhove-Kalergi lange als Repräsentanten französischer Interessen wahrnahm. Erst Anfang der 1930er-Jahre setzte in Rom ein langsamer Stimmungswechsel in Bezug auf »Paneuropa« ein. Vor dem Hintergrund einer möglichen italienisch-französischen Annäherung stieg das Interesse an Coudenhove-Kalergi, der sich zum Fürsprecher der Idee einer »lateinischen Union« machte. Im Mai 1933 kam es zu einem ersten Treffen zwischen Benito Mussolini und Coudenhove‑Kalergi. Thöndl beschreibt, wie Coudenhove-Kalergi im Nachgang dieses Treffens seine Positionen in Richtung einer Unterstützung des Faschismus verschob und die Person Mussolinis zunehmend bewundernd beschrieb. Diese Bewunderung für den »Duce« führte perspektivisch unter anderem zur Legitimation der italienischen Eroberung Abessiniens durch Coudenhove-Kalergi. Damit bestätigt sich auch in diesem Kontext, was die Forschung zu »Paneuropa« immer wieder gezeigt hat: die inhaltliche Wankelmütigkeit Coudenhove-Kalergis, der opportunistisch sein »Paneuropa«‑Konzept anpasste, wie es im Interesse seiner Umsetzung gerade sinnvoll erschien. Damit einher ging, auch dies zeigt die Arbeit Thöndls, Coudenhove-Kalergis Selbstüberschätzung und eine spezifisch um sich selbst kreisende Realitätswahrnehmung.
Erfreulicherweise aber konzentriert sich Michael Thöndl nicht nur auf Coudenhove-Kalergi und sein Agieren, sondern er bezieht, auf der Grundlage umfassender Archivrecherchen, die italienische Politik gleichberechtigt mit ein. Er kann zeigen, wie Rom sich bemühte, Coudenhove-Kalergis Kontakte zu nutzen, gleichzeitig aber – vor allem die faschistische Geheimpolizei – immer eine gewisse Skepsis gegenüber dem »Paneuropäer« erhalten blieb. Auch ideengeschichtlich kontextualisiert Thöndl die Konzepte Coudenhove-Kalergis im italienischen Faschismus der 1930er-Jahre. So skizziert er am Beispiel von Asvero Gravelli, Guido Manacorda, Oscar Ebner von Ebenthall, Franco Angelini und Julius Evola die inhaltliche Auseinandersetzung italienischer Faschisten mit Coudenhove-Kalergi. Auf diese Weise thematisiert die Studie auch das faschistische Europa-Denken jenseits der »Paneuropa«-Idee.
Schließlich wird deutlich, warum sich seit etwa 1937 die temporäre Allianz zwischen Coudenhove-Kalergi und Rom wieder zu lösen begann. Vor dem Hintergrund der »Achse« Rom-Berlin und der Konfiskation des Vermögens der deutschen Paneuropa‑Union 1937, wandte sich Coudenhove-Kalergi zunehmend vom Faschismus ab. Die überzeugte Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus, die – neben dem Antibolschewismus – eine der wenigen Konstanten in Coudenhove-Kalergis Weltbild darstellte, trug zu dieser Entfremdung bei. Spätestens mit Kriegsbeginn setzte Coudenhove-Kalergi seine Hoffnung auf die USA und die liberale Demokratie angelsächsischer Prägung. Diese Entfremdung war eine gegenseitige: 1938 wurde Coudenhove-Kalergis Buch »Totaler Staat – totaler Mensch«, in dem Zweifel am faschistischen Menschenbild formuliert waren, in Italien verboten.
Sorgfältig beschreibt Michael Thöndl die Entwicklung des komplexen Verhältnisses zwischen Faschismus und »Paneuropa« von den 1920er-Jahren bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Dabei geht er weitestgehend in chronologischer Schilderung vor. An manchen Stellen hätte man sich als Leserin einen etwas stärker analysierenden Zugriff gewünscht, denn teilweise nähert sich der Text einem ereignisgeschichtlichen Narrativ sehr eng an. Doch der Erkenntnisgewinn über diese bisher unterbelichtete Phase des Wirkens Coudenhove-Kalergis überwiegt diese kleineren Schwächen deutlich. Dabei liegt die Stärke der Monographie vor allem darin, dass Michael Thöndl ursprünglich kein »(Pan-)Europahistoriker« ist, sondern sein Interesse an der Thematik aus der italienischen (Ideen-)Geschichte erwächst. Daher ist seine Studie nicht nur von Interesse für alle, die sich spezifisch mit »Paneuropa« und Richard Coudenhove-Kalergi auseinandersetzen, sondern auch für jene, die sich mit dem Verhältnis des faschistischen Italien zur Europa-Idee beschäftigen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Vanessa Conze, Rezension von/compte rendu de: Michael Thöndl, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, die »Paneuropa-Union« und der Faschismus 1923–1944, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2024, 238 S., ISBN 3-96023-588-7, EUR 36,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112801





