In der breiten Literatur zu Elsass und Lothringen befassen sich nur wenige Bücher mit der deutsch-französischen Grenze selbst. Benoit Vaillots Monografie (wie auch Sarah Frenkings 2021 erschienene Zwischenfälle im Reichsland) füllt ebendiese Lücke für die Grenze, die 1870‒71 im Deutsch-Französischen Krieg entstand und im Ersten Weltkrieg wieder verschwand. Er versteht den Grenzraum als »Labor der Souveränität«, das für spätere Entwicklungen an anderen europäischen Grenzen prägend war. Zudem zeigt er, welch weitreichende Folgen das Grenzregime hatte, sowohl für europäische Nationalstaaten als auch für Menschen, Tiere und Umwelt.

In der ersten Hälfte des Buchs geht Vaillot chronologisch vor. Die deutsch-französische Grenze wurde schon während des Kriegs verschoben, als die deutsche Besatzungsmacht eine neue Verwaltung in den Departements Moselle, Haut-Rhin und Bas-Rhin einrichtete. Vaillot widmet sein erstes Kapitel der Grenzziehung und -markierung des neuen Reichslands Elsaß-Lothringen. Bei den Friedensverhandlungen über den Grenzverlauf verfolgten die Deutschen konkurrierende ethnolinguistische, militärstrategische und ressourcengeleitete Ziele, während der französische Staat vor allem die Festung Belfort behalten wollte. Eine gemischte Kommission passte die ausgehandelte Grenze anschließend an die Realitäten vor Ort an: z. B. durfte Frankreich einen Teil des Dorfs Avricourt behalten, damit die Eisenbahninfrastruktur intakt blieb. Im Gegenzug musste die Dritte Republik den Bau eines neuen, größeren Bahnhofs auf deutscher Seite bezahlen.

Fast ein Jahrzehnt lang blieb vieles beim Alten im neuen Reichsland: Zölle wurden nur verzögert eingeführt, der Franc wurde weiterhin benutzt, selbst mit deutschen Behörden konnte man auf Französisch kommunizieren. Diese Kulanz verschwand aber schnell, als die Spannungen stiegen und beide Staaten ihre Präsenz im Grenzraum verstärkten, wie im zweiten Kapitel zu lesen ist. 1881 mussten französische Firmen ihre elsässischen Geschäfte unter Druck der deutschen Behörden aufgeben oder abtrennen. 1885 wurde der »konziliante« Statthalter des Reichslands ausgewechselt, ein Jahr später wurde der streitlustige General Boulanger französischer Kriegsminister. Nach Grenzzwischenfällen im Jahre 1887 führte das Deutsche Reich den Passzwang und die Visumpflicht für alle Französinnen und Franzosen ein, wodurch auch Familienbesuche erschwert wurden. Beiderseits der Grenze protestierte die Bevölkerung vehement, bis die Maßnahmen 1891 (teilweise) zurückgenommen wurden.

Angesichts neuer Herausforderungen bekam die deutsch‑französische Grenze neue Funktionen, die im dritten Kapitel behandelt werden. Beide Staaten reagierten auf Cholera‑Ausbrüche im Nachbarland mit neuen Gesundheitskontrollen an der Grenze. Das Automobil stellte bis zu seiner Regulierung durch internationale Abkommen mehrere Herausforderungen dar, darunter eine zollrechtliche: Fahrer mussten große Mengen an Bargeld mitnehmen, um ihr Transportmittel selbst ein- und auszuführen. Zur effektiveren Kontrolle des Verkehrs errichteten erst Frankreich, dann Deutschland Schlagbäume, welche als neuartige Barrieren umstritten waren, bis sie später zum Symbol der Grenze schlechthin wurden. Die Regelung der Luftfahrt war schon konzeptionell schwierig, denn zeitgenössische Juristen waren skeptisch, ob die bloße Luft über einem Territorium auch der staatlichen Souveränität unterliege. Nichtsdestotrotz gewährten sich Frankreich und Deutschland 1913 gegenseitig das Recht, den Durchflug im neu geschaffenen »Luftraum« zu verbieten.

Die zweite Hälfte des Buchs ist thematisch strukturiert. Zuerst untersucht der Autor verschiedene Grenzlandakteure, die kontrollierten oder kontrolliert wurden: Zöllner, Gendarmen, Polizei, Schmuggler, Spione, aber auch Tiere. Das Gros des vierten Kapitels befasst sich mit dem damals neuen Wesen der Grenzpolizei: die französischen Commissaires spéciaux de police dienten als Modell für die deutschen Grenzpolizeikommissare, die wenige Jahre später aufgebaut wurden. Auf beiden Seiten übten diese Beamten Spionagetätigkeiten aus, identifizierten mögliche Deserteure, und stellten Listen von Personen zusammen, deren nationale Loyalität ihnen verdächtig erschien.

Nicht nur nationale Loyalitäten, sondern auch Nationalitäten überhaupt waren oft schwer zuzuordnen. Der Frankfurter Friedensvertrag räumte den Bewohnern und Bewohnerinnen des annektierten Gebiets die »Option« ein, die französische Staatsbürgerschaft beizubehalten, wenn sie das Reichsland verließen. Die Bestimmungen waren aber verwirrend und wurden von beiden Staaten unterschiedlich gehandhabt, wie Vaillot im fünften Kapitel zeigt. So haben ca. 130 000 Personen, die ihren Optionswunsch vor einem deutschen Kreisdirektor hätten deklarieren müssen, dies stattdessen in Frankreich getan ‒ was deutscherseits nicht anerkannt wurde. Viele wurden dadurch unwissentlich doppelte Staatsbürger, was vor allem für junge Männer problematisch war: beim Grenzübertritt ins Reichsland konnten sie zum deutschen Wehrdienst eingezogen oder als vermeintliche Deserteure festgenommen werden.

In den letzten zwei, wohl spannendsten Kapiteln analysiert Vaillot Zusammenhänge zwischen Grenze und Umwelt. Innerhalb weniger Jahre konnte man den Staat an seinen Bäumen erkennen. In Frankreich blieben die Wälder hoch und heterogen, weil Förster nur die ältesten Bäume fällten. Im Reichsland wurden ganze Wälder durch Kahlschlag abgeholzt, die Bäume der wiederaufgeforsteten Flächen waren dadurch jünger, kleiner und homogener. Dank der Verpflanzung von Pinien aus dem Schwarzwald konnte man das deutsche Territorium sogar riechen. Obwohl Grenzen in vielerlei Hinsicht ein menschliches Sozialkonstrukt sind, machte es auch für Tiere einen großen Unterschied, auf welcher Seite sie lebten. Im Reichsland waren Offiziere, Beamten und Grundbesitzer im Jagdrecht privilegiert, und deutsche Behörden ließen das Wild für Großjagdpartien absichtlich vermehren. Das »demokratische« Jagdrecht in Frankreich war für viele Tiere weitaus tödlicher. Vaillot widmet sein letztes Kapitel den Bergen als Grenzraum. Dort versuchte der deutsche Vogesenclub sich auch die Natur Elsaß-Lothringens anzueignen, indem er Schilder, Wege, Karten, Hütten und andere touristische Infrastrukturen schuf. Der Club alpin français imitierte, übernahm und übertraf manchmal diese Maßnahmen, etwa indem er Wanderungen nicht nur bis zur Grenze führte (wie die Deutschen), sondern darüber hinweg ins fremde Territorium.

Vaillot argumentiert, dass die deutsch-französische Grenze beispielhaft für Entwicklungen an anderen europäischen Grenzen war. Gelegentlich übertreibt er aber dieses sonst plausible Argument, etwa indem er spekuliert, dass Zwangsumsiedlungen nach 1918 und 1945 in anderen Teilen Europas auf schlechte Erfahrungen mit der »Option« des Frankfurter Vertrags zurückzuführen sein könnten (481). Vielleicht wichtiger ist seine Relativierung einiger vermeintlich »normaler« Elemente moderner Grenzen: Pässe, Schlagbäume und die Kontrolle des Luftraums gehörten lange nicht zum Instrumentarium des Staates, ihnen wurde anfangs mit Ablehnung und Skepsis begegnet. Die Forschungsleistung des Autors umfasst auch die Visualisierung seiner Daten, die auf einer begleitenden Webseite mit Zusatzmaterial zu finden sind.1 L’invention d’une frontière ist also mehr als eine Monografie, aber der Text selbst ist empirisch gesättigt und lesenswert. Er wird vor allem die umweltgeschichtliche Forschung zu Grenzen bereichern.

1 Die Seite https://www.border1871.eu/ enthält insbesondere eine Border Incidents Database , die einen umfassenden Überblick über Grenzvorfälle bietet, die u.a. über eine dynamische Karte erschlossen sind.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andrew S. Tompkins, Rezension von/compte rendu de: Benoit Vaillot, L’invention d’une frontière: Entre France et Allemagne, 1871–1914. Paris (CNRS Éditions) 2023, 511 S., ISBN 978-2-271-14564-2, EUR 27,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112802