Jon Balserak legt mit seiner Studie eine umfangreiche Untersuchung der Genfer Strategien zur Reformation Frankreichs in den Jahren 1536–1563 vor. Im Zentrum steht die These, dass Calvin und seine Mitarbeiter den Aufbau reformierter Gemeinden jenseits der Grenze bewusst durch Mittel der Täuschung, Verschleierung und Hinterlist betrieben (3). Ihr Ziel war es, im katholisch dominierten Frankreich zunächst unsichtbare Strukturen zu etablieren, um die evangelische Sache vor staatlicher und kirchlicher Verfolgung zu schützen (7). Balserak zeichnet Calvin dabei nicht als »unmoralischen« Agitator im Sinne älterer, stark von Polemik geprägter Calvin-Bilder – etwa bei Stefan Zweig –, sondern als religiösen Strategen, der sämtliche Mittel für legitim erachtete, wenn es darum ging, Christi Reich in Frankreich zu verwirklichen. Krieg und Täuschung erscheinen in diesem Kontext als Instrumente eines heilsgeschichtlich verstandenen Auftrags (15).

Ein besonderes Gewicht legt der Autor auf die Einordnung in den Forschungsstand. Aufbauend auf den grundlegenden Arbeiten von Irena Backus, bietet Balserak einen differenzierten Überblick über die Entwicklung der Calvin-Bilder von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Er weist überzeugend nach, dass sich die frühe, polemisch geführte Diskussion auch in die wissenschaftliche Forschung hinein verlängerte und das Bild Calvins als moralisch fragwürdigen Reformator bis heute prägt (46–47), auch wenn sich ein deutlich differenzierterer Blick längst etabliert hat. Hervorzuheben ist die breite Rezeption sowohl der frankophonen Calvin-Forschung, etwa Denis Crouzets, als auch der prägenden deutschsprachigen Calvin-Interpretationen von Oscar Pfister bis Karl Barth. Der Forschungsüberblick überzeugt als eigenständiger Beitrag: Er dient nicht nur als Einführung in Balseraks Fragestellung, sondern zugleich als hilfreiche bibliografische Ressource für künftige Studien.

Das dritte Kapitel bietet eine weit ausholende ideengeschichtliche Kontextualisierung zu Lüge, Dissimulation und Täuschung von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Zwar gelingt es Balserak, zentrale Linien der Diskussion aufzuzeigen, insbesondere die Charakterisierung der Frühen Neuzeit als »Zeitalter der Dissimulation« (79), doch hätte eine straffere Darstellung ausgereicht. Dass Autoren wie Origenes zwar in den Überschriften erscheinen, im Text selbst aber nicht besprochen werden, trägt zudem nicht zur Klarheit bei. Stärker gelungen ist die differenzierte Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Semantik von dissimulatio und simulatio, die Balserak in Anschluss an Zagorin und Cavaillé als kaum trennbar deutet.

Ein zentrales Einzelkapitel gilt Calvins Widmungsbrief an Franz I. Balserak interpretiert den Text weniger als Verteidigung des Evangeliums, sondern als Versuch, Calvins Loyalität gegenüber dem König zu demonstrieren und seine wahren Absichten zu verschleiern (99). Dieser Ansatz ist originell, wirkt aber insofern verkürzt, als dass die deutliche Drohung Calvins an den König, Gott werde für die Verfolgung der Evangelischen Vergeltung üben, kaum in die Argumentation integriert wird. Hier bleibt Balseraks Lesart angreifbar und hätte eine ausführlichere Diskussion verdient, nicht zuletzt im Vergleich mit anderen Widmungsbriefen der Reformationszeit.

Besonders überzeugend sind die Analysen zur Genfer Organisationspraxis in den 1540er- und 1550er-Jahren. Die Einrichtung der Compagnie des Pasteurs sowie die Instrumentalisierung der Bourse des pauvres estrangers français zeigen anschaulich, wie systematisch Genf Ressourcen für die Evangelisierung Frankreichs bereitstellte (132). Balserak arbeitet plastisch heraus, dass Täuschung und Lüge nicht als moralisches Problem galten, sondern biblisch legitimiert wurden. Dasselbe galt jedoch nicht für die sog. Nikodemiten, die äußerlich vorgaben altgläubig zu sein, jedoch innerlich der Reformation anhingen. Deren Verstellung verurteilte Calvin unmissverständlich – ein spannender Gegensatz, den Balserak zu Recht betont (151–152).

Weitere Kapitel widmen sich den politischen Dimensionen, insbesondere Calvins Haltung zu den französischen Adelsoppositionen unter Franz II. und den Ereignissen um die Verschwörung von Amboise. Balserak zeigt, dass Calvin keineswegs grundsätzlich passiven Widerstand propagierte, sondern sehr wohl die Option eines von hochadeligen Führern – wie Antoine de Bourbon, duc de Vendôme – getragenen Aufstands in Erwägung zog (171–177). Mit Blick auf Catherine de Medicis Toleranzpolitik hebt der Autor hervor, dass die relative Duldung zugleich neue Gefahren für die reformierten Gemeinden schuf und Calvin zu schärferen Mahnungen an seine Anhänger veranlasste. Besonders gelungen ist die Analyse von Calvins Vorrede zu den Daniel‑Vorlesungen, in der sich der Ton gegenüber früheren Schriften deutlich verschärft (221–228).

Das achte Kapitel, das sich dem ersten französischen Religionskrieg widmet, erweitert die Untersuchung um die Predigtpraxis Calvins. Balserak weist überzeugend nach, dass Calvin den militärischen Konflikt in eine heilsgeschichtliche Lesart einband, indem er die Hugenotten mit dem biblischen Haus Davids und die Altgläubigen mit dem Haus Sauls identifizierte (246). Auf diese Weise wird die Unterstützung des Krieges, vor allem in Form von Gebet und Kriegsdienst, nicht nur politisch, sondern vor allem geistlich legitimiert. Der Befund ist insofern von Bedeutung, als er gängige Vorstellungen eines strikt friedfertigen Calvin nachhaltig korrigiert.

Stärken des Werkes sind die systematische Zusammenschau bisheriger Forschung, die klare Herausarbeitung der politischen Dimensionen von Calvins Wirken sowie die plastische Darstellung der Genfer Netzwerke. Kritisch anzumerken ist hingegen, dass die Perspektive fast ausschließlich von Genf ausgehend entwickelt wird. Die Sicht der katholischen Gegenseite auf die Genfer Aktivitäten in Frankreich, sei es in den Quellen des Adels oder der Sorbonne, wird kaum berücksichtigt. Auch der Verzicht auf systematische Arbeit mit den lateinischen Originaltexten, die häufig nur in Übersetzung angeführt werden, schmälert den philologischen Anspruch der Untersuchung. Hier wäre eine stärkere Einbeziehung der Originalsprache wünschenswert gewesen, um die Präzision der Argumente weiter zu sichern.

Methodisch überzeugt Balserak vor allem durch die konsequente Verbindung von politischer Geschichte und Theologie. Gerade die Analyse der institutionellen Strukturen in Genf zeigt, dass Reformation nicht nur als Ideen- oder Theologiegeschichte, sondern zugleich als ein höchst praktisches und organisatorisches Projekt verstanden werden muss. Der Autor betont zu Recht, dass Calvins Einfluss in Frankreich nicht ohne die Vielzahl an Mitarbeitern, Netzwerken und logistischen Maßnahmen denkbar gewesen wäre. Damit öffnet die Studie den Blick für die soziale und institutionelle Verankerung der Reformation, die oft hinter der Fixierung auf einzelne »große Männer« zurücktritt.

Insgesamt bietet Balserak eine gewichtige Neubewertung der Genfer Frankreichpolitik. Indem er Lüge und Verschleierung nicht als moralische Verfehlung, sondern als strategisch legitimierte Mittel der Reformation versteht, gelingt es ihm, das Verhältnis von Politik und Religion im Werk Calvins neu zu konturieren. Das Buch erschließt zwar überwiegend bekannte Quellen, bietet jedoch durch ihre systematische Zusammenführung in thematischen Zusammenhängen einen erheblichen Mehrwert. Die Studie stellt also eine wertvolle Ressource für die künftige Forschung dar und kann als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen zur Genfer Einflussnahme in den französischen Religionskriegen dienen. Sie wird nicht nur Calvin-Forscherinnen und -Forschern, sondern allen, die sich mit der politischen Kultur der Frühen Neuzeit beschäftigen, wertvolle Anregungen geben.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Damian Domke, Rezension von/compte rendu de: Jon Balserak, Geneva’s Use of Lies, Deceit, and Subterfuge, 1536–1563. Telling the Old, Old Story in Reformation France, Oxford (Oxford University Press) 2024, 336 p., 2 b/w fig. (Oxford Studies in Historical Theology), ISBN 978-0-19-767230-3, USD 132,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112983