Die hier zu besprechende Studie des in Montreal lehrenden Romanisten Normand Doiron beschäftigt sich mit den Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf den französischsprachigen Texten dieses Genres liegt. Das Erkenntnisinteresse des Autors ist es dabei, anhand dieser Texte eine Art Psychogramm des frühneuzeitlichen Höflings zu entwerfen.

Das Buch beginnt mit einer Einleitung, in der zunächst ein Überblick über das verwendete Korpus an Hofmannstraktaten und über den Forschungsstand zu diesem Thema gegeben wird. Im weiteren Verlauf der Einleitung nimmt der Autor Bezug auf Michel Foucault und dessen Konzept der »arts de l’existence« oder »technologies de soi«, wobei Doiron vorschlägt, die Hofmannstraktate (die, wie er betont, Foucault nicht untersucht hatte, 28) in diese Kategorie einzuordnen (32).

Das erste Kapitel geht von Norbert Elias’ Überlegungen zur Bedeutung des Zwangs am Hof aus und geht dann entsprechend dieser Thematik in frühneuzeitlichen Hofmannstraktaten nach. Dabei geht es Doiron – in der Nachfolge von Elias – nicht nur um den Hof als ein System äußerer Zwänge, sondern auch um die Selbstdisziplin, die ein Höfling, der erfolgreich sein will, erlernen muss. Das zweite Kapitel thematisiert das Genre der Trostliteratur und fragt nach den Beziehungen dieser Textgattung zum Hofleben. Das dritte Kapitel, das mit »Le parfait gentilhomme« überschrieben ist und damit den Titel eines Hofmannstraktats aufgreift, analysiert die Idee der Perfektion des Hofmanns.

Das vierte Kapitel ist mit »La servitude volontaire« überschrieben. Bereits der Titel verweist auf den wichtigen Umstand, dass Étienne de La Boéties Discours de la servitude volontaire eine zentrale Quelle für Doirons Buch ist und dessen Perspektive bestimmt. In Doirons Sicht unterwerfen sich die Höflinge am Hof nämlich einer freiwilligen Knechtschaft. Dieser freiwilligen Unterwerfung weist Doiron bereits weiter vorne, im ersten Kapitel, eine zentrale Bedeutung zu: »Cette ›volonté de servitude‹ est l’acte originel qui structure le psychisme de l’homme et de la femme de cour, pour ne pas dire de l’homme et de la femme modernes« (61).

Das fünfte Kapitel erweitert die Materialgrundlage nun über die Hofmannstraktate hinaus, indem es die Thematik von Herrscher und Höfling in den Theaterstücken von Pierre Corneille untersucht; Doiron stellt dabei Cinna in den Mittelpunkt. Im sechsten Kapitel wird diese Linie weitergeführt, indem nun auch das Theater Jean Racines in die Untersuchung einbezogen wird; hier dient Iphigénie als Hauptbeispiel. Das siebte Kapitel greift wiederum ein neues Thema auf, und zwar dasjenige der Hoffnung. Sie ist laut Doiron diejenige Motivation, die die beschriebene Dynamik des Hoflebens zu erklären erlaubt. Die Höflinge, so das Argument von Doiron, unterwerfen sich den Zwängen des Hofes deswegen, weil sie von der Gunst des Herrschers reiche Belohnung erhoffen – die aber, so Doiron weiter, oft nicht eintrifft. Im achten und letzten Kapitel schließlich werden unter anderem Argumente aus Klassikern der Psychoanalyse und der Psychologie, nämlich Freud und C. G. Jung, einbezogen.

Doirons Buch ist für historisch Arbeitende keine einfache Lektüre. Sein Stil ist oft essayistisch, manchmal geradezu literarisch. Dazu passt, dass das Buch wenige Fußnoten hat und diese zudem weitgehend auf die Sekundärliteratur beschränkt sind; nicht wenige Quellenzitate im Text sind somit nur mit Autor und Titel belegt, nicht aber mit einer Seitenzahl, durch die sie aufzufinden wären. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis fehlt ganz.

Die Kombination aus der an Norbert Elias und Michel Foucault orientierten Interpretation mit Étienne de La Boéties Text als zentraler Schlüsselquelle für das Verständnis des Hoflebens führt zu einer letztlich recht holzschnittartigen Perspektive auf das Hofleben, in der die Höflinge als willfährige Knechte eines tyrannischen Herrschers erscheinen – der Begriff des Tyrannen spielt denn auch im Lauf der Darstellung eine wichtige Rolle, so im Kapitel über die »servitude volontaire« und in demjenigen über das Stück Cinna von Corneille. Doiron beschreibt, mit anderen Worten, den Hof als ein Zwangssystem, dem sich die Höflinge mit Haut und Haar unterwerfen müssen. Hier wäre eine stärkere Einbeziehung der neueren geschichtswissenschaftlichen Literatur hilfreich gewesen, die die Postulate von Norbert Elias inzwischen deutlich in Frage gestellt hat – zu nennen wären etwa die Arbeiten von Jeroen Duindam (Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court,  1994) und von Leonhard Horowski (Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789, 2012). Diese Arbeiten zeigen deutlich, dass die Höflinge sich durchaus nicht bedingungslos der völligen Willkür des Herrschers ausliefern mussten.

Man mag natürlich als Gegenargument einwenden, dass es nicht die Aufgabe einer romanistischen Studie ist, den Blickwinkel der Geschichtswissenschaft auf ihren Gegenstand anzuwenden. Wenn der Gegenstand der Studie die Darstellung des Hoflebens in Traktaten und Theaterstücken ist, wird die Beschreibung und Deutung dieser literarischen Darstellung nicht dadurch falsch, dass das realhistorische Hofleben anders war. Allerdings darf man Doiron wohl doch so verstehen, dass es ihm nicht um eine rein textimmanente Lektüre literarischer Werke, sondern um eine kulturgeschichtliche Perspektive geht, die durchaus auch Aussagen über die reale höfische Gesellschaft machen will; und dann wären neuere geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse durchaus einschlägig gewesen.

Doirons Studie ist anregend, auch wenn sie – anders als viele andere romanistische Arbeiten – an die Diskussionen in der Geschichtswissenschaft methodisch nur schwer anschlussfähig ist. Dennoch ist Normand Doiron eine interessante Reflexion über die frühneuzeitlichen Hofmannstraktate gelungen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Kühner, Rezension von/compte rendu de: Normand Doiron, L’âme captive. Une histoire des traités de cour (XVIe–XVIIe siècles), Genève (Librairie Droz) 2023, 256 p. (Cahiers d’Humanisme et Renaissance, 192), ISBN 978-2-600-06435-4, EUR 36,90., in: Francia-Recensio 2025/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112986