In der französischen Wirtschaftstheorie tut sich einiges seit dem umfangreichen Werk von Thomas Piketty. Der Neoliberalismus ist out. Der Autor des vorliegenden Buches argumentiert stärker aus historischer Sicht. Er war bereits 2023 mit einem Werk über die »Savoirs perdus de l’économie« hervorgetreten, zuvor 2018 mit einer Studie über das vorrevolutionäre Wirtschafts- und Finanzsystem des John Law (1695–1729). Nun prägt er den Begriff eines »Kapitalismus der Begrenztheit«, ausgehend von der Endlichkeit der Ressourcen auf der Erdkugel, eine Vorstellung, die nicht erst mit dem Club of Rome aufgekommen ist. Man findet solche Sorgen bekanntlich schon 1865 in der berühmten »Coal Question« des englischen Ökonomen Stanley Jevons. Orain kennt noch frühere Zeugen, so den am Anfang des 17. Jahrhunderts lebenden französischen Juristen und Seefahrer Marc Lescarbot. Als Motiv für die rastlose Jagd seiner Zeit nach neu gewonnenen Küsten, Ressourcen und Märkten nannte er die Begierde bzw. Habgier (convoitise). Sie sei, so meint schließlich auch Orain, der Stachel der ersten Raubperiode (première prédation) vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, die erst um 1800 eine Pause einlegte, um ca. 100 Jahre später in neuer Radikalität aufzubrechen. Nunmehr brachte der Philosoph Jean Izoulet (1854–1929) es auf den Punkt: Für eine unbegrenzte Nachfrage biete die Erdkugel nur ein begrenztes Angebot. Die europäische Welt habe sich in einen suizidalen doppelten Konflikt um die Weltherrschaft begeben. Sie entdeckte erst 1945, so der Autor des vorliegenden Werkes wie viele andere, neue Chancen weltweiter Zusammenarbeit und offener Märkte, bis neueste Entwicklungen die Jagd auf letzte Territorien und Einflusszonen erneut auslösten (Arktis, Grönland etc.). Für Orain bedeutet die neue Dichotomie in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr Liberalismus versus Interventionismus, sondern auf der einen Seite die Aussicht unbegrenzter Bereicherung, auf der anderen die Einsicht in die begrenzten Ressourcen.

Orain beginnt mit dem aktuellen Erwachen der Einsicht in den von Endlichkeit (finitude) geprägten Kapitalismus, den er historisch am Ablauf des Geschehens auf den Meeren ausmacht: seit 1500 rivalisierende europäische Flotten begleitet von Seeräuberei, im 19. Jahrhundert Freiheit der Meere unter britischer Dominanz, danach verstärktes Bewusstsein nationalen Nachholbedarfes vor allem in der westlichen Welt, Flottenpolitik, ungehemmte Rivalität, europäischer Niedergang. Die aufzuzählenden Tatbestände seien unendlich.

Am Ende seiner Einleitung definiert Orain vier Ziele seines Buches: 1. Chronologische Abläufe der verschiedenen Ausformungen von Liberalismus zwischen 1850 und 2020, 2. Erscheinungsformen des »capitalisme de la finitude« in der längeren zeitlichen Perspektive seit dem 16. Jahrhundert, 3. Verbindung von strenger Wirtschaftsgeschichte und geistesgeschichtlicher Betrachtung des Wirtschaftslebens, 4. Abgrenzung von erneut ausgegrabenen gefährlichen ökonomischen Vorstellungen eines Carl Schmitt (ausgehend von der alten Elementenlehre) zugunsten einer »wahrhaft ökologischen und friedlichen Ökonomie«. Abweichend davon ist der Hauptteil des Buches in sechs Kapitel gegliedert. Zwei Kapitel behandeln die aktuelle Entwicklung zur Schließung und Militarisierung der Meere, zwei weitere die Tendenzen zur Ausschaltung von Konkurrenz, sie dokumentieren das Machtstreben der großen öffentlichen und privaten Konzerne, dies jeweils in raschen Sprüngen von einem der Theoretiker des französischen Ancien Régime, zu Autoren Englands oder Deutschlands im 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Aktualität der Politik des Weißen Hauses. Ein Beispiel dafür sind die Seiten 135–150 (»L’impossible concurrence«, wo man vom Protektionismus à la Montchrétien 1615 (»la France envahie par une horde de négociants hollandais ou espagnols«), zu Gustav Schmoller im triumphierenden Deutschland nach 1870, dem britischen Imperialisten William Cunningham am Ende des 19. Jahrhundert bis zur chinesischen Autosuffizienz unter Xi Jinping gelangt. Man begreift dann spätestens, was mit dem »capitalisme de la finitude« auch gemeint sein kann, nämlich weitgehende Selbstversorgung im Inneren bei gleichzeitig hohem Export und der festen Überzeugung, dass eben nicht genug für alle da ist und man vor allem für sich selbst zu sorgen hat. Interessanterweise erscheinen hier weitere zeitgeschichtliche Akteure, die zunächst offen gegenüber freiem Welthandel argumentierten und Win-Win-Situationen erwarteten, dann aber zu zweifeln begannen, so Angela Merkel, Olaf Scholz und der BASF-Mann Jörg Wuttke (146–147). Das passt gut zum Titel der Buchreihe des Verlags Flammarion, in der der Band erschienen ist: »Le présent de l’histoire«. Im Schlusswort geht es um die Alternativen, die uns ökonomisch heute zur Wahl stehen. Man liest das alles mit großem Interesse, wünschte sich aber im Einzelnen mehr und genauere Nachweise. Die Anmerkungen auf den Seiten 323–355 sind zwar informativ und dicht gedruckt, aber die vielen Verweise auf »op. cit.« nicht leicht aufzulösen.1

1 Als ergänzende Lektüre verweise ich auf Patrick d’Humières, Le développement durable va-t-il tuer le capitalisme?, Paris 2010.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dietrich Lohrmann, Rezension von/compte rendu de: Arnaud Orain, Le monde confisqué. Essai sur le capitalisme de la finitude, XVIe–XXIe siècle, Paris (Flammarion) 2025, 365 p., ISBN 978-2-0804-6657-0, EUR 23,90., in: Francia-Recensio 2025/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113001