Der Reichshofrat erfreut sich als eines der beiden Höchstgerichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches eines zunehmenden Interesses der Forschung.1 Gewöhnlich setzte dieselbe dabei zumeist erst mit der Neukonstituierung des Gremiums durch Kaiser Ferdinand I. 1559 an. Denn der spätere Reichshofrat ging personell aus jenem Hofrat Ferdinands als römisch-deutschem König hervor, der bereits während der Regierungszeit Karls V. als Kaiser bestanden hatte. Hingegen wurde der, aufgrund des Sonderfalles der großen von Karl gleichzeitig in Personalunion regierten Reiche, gleichzeitig bestehende Hofrat des Kaisers, bisher kaum in den Blick genommen. Mit Eva Ortlieb hat nun eine profilierte Kennerin des Reichshofrates eine umfassende Monografie zum Hofrat Karls V. vorgelegt.
Die Autorin verfolgt dabei den Anspruch, nicht nur einen Beitrag zur Vorgeschichte der späteren Reichsinstitution zu leisten, sondern auch die größeren Forschungskomplexe zur Herrschaft Karls V., zur Verwaltungs-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte des Alten Reiches und zu Mechanismen kaiserlicher Herrschaft zu adressieren. So untersucht die Monografie neben den schriftlichen Regeln, die seiner Tätigkeit zugrunde lagen, und seiner Verfahrensweise auch die Verfahrenspraxis, das institutionelle Umfeld und das Personal des Hofrats Karls V. eingehend.
In ihrer Analyse stützt sich die Autorin dabei in erster Linie auf die eigene Überlieferung des Hofrats in Protokollbänden und Verfahrensakten, welche hauptsächlich in den Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchives in Wien zu finden sind, da nur wenige andere Quellen den Hofrat erwähnen, der meist vollständig hinter den Kaiser zurückgetreten sei. Fassbar wird das Gremium zuweilen auch in den Reichstagsakten. Überzeugend kann Ortlieb darlegen, dass Karls Hofrat in Tradition desjenigen seines Vorgängers und Großvaters Kaiser Maximilians zunächst lediglich während der Reichstage zusammentrat. Dabei sei er keineswegs direkt mit der Organisation des Reichstags verknüpft gewesen. Dieser habe laut Ortlieb vielmehr als Forum für Untertanen gedient, die an den Kaiser herantreten wollten, was die Einsetzung eines entsprechenden Ratsgremiums nötig gemacht habe. Demnach könne in den ersten beiden Phasen hofrätlicher Tätigkeit zwischen 1522 und 1529 sowie zwischen 1533 und 1540 die Existenz desselben zunächst nur punktuell und später dann abschnittsweise nachgewiesen werden, auch wenn sich deutsche Räte am Hof Karls V. ständig mit Reichsangelegenheiten befasst haben dürften. Eine Verstetigung des Hofrates als Gremium habe demnach im Wesentlichen erst in der späten Regierungszeit Karls V. (1540–1556) stattgefunden, welche durch die zunehmende Tätigkeit des Hofrates auch außerhalb der Reichstage gekennzeichnet sei.
Daher beschäftigt sich die Studie Ortliebs mehrheitlich mit dieser letzten Phase der Herrschaft Karls im Reich, für die die erste schriftliche Ordnung, der ordo consilii von 1550, überliefert ist. Hier kann Ortlieb überzeugend darlegen, dass die wahrscheinlich durch den Rechtsprofessor und Hofrat Viglius Zuichemus geschriebene Ordnung in Tradition der burgundischen Verwaltungspraxis steht, nicht zuletzt war Viglius Vorsitzender des die Niederlande regierenden Grand Conseil gewesen. Die beobachtbare Praxis jenes früheren Hofrates deutet Ortlieb dagegen in Übereinstimmung mit ihren Erkenntnissen zum späteren Reichshofrat als »Wechselspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit« sowie als »Paradebeispiel für die Bedeutung von Informalität« (86).
Verdienstreich ist die folgende Sammlung und Analyse des Hofratspersonals hinsichtlich seiner geografischen und sozialen Herkunft, seiner Ausbildung und Karrierewege. Dabei zeigt sich, dass die 60 untersuchten Hofräte und 30 Kandidaten erwartbarer Weise ohne ständische Mitbestimmung aus der altgläubigen habsburgischen Klientel gestammt hatten und bereits in diversen anderen Rollen in den Herrschaftsapparat eingebunden gewesen seien. So seien etwa Vater und Sohn Perrenot de Granvelle als Kanzler der Reichskanzlei jeweils de facto Leiter des pro forma unter fürstlichem Vorsitz stehenden Gremiums gewesen. Anhand der engen Verknüpfung von Hofrat und Reichskanzlei kann Ortlieb glaubhaft machen, dass sich der Hofrat aus der Kanzlei heraus entwickelt hat, eine Beobachtung, welche sie leider nicht in Relation zu ähnlichen Entwicklungen auf Ebene der Stände setzt.2 Überhaupt bezieht die Autorin den Hofrat Karls V. primär auf den späteren Reichshofrat. Eine stärkere Bezugnahme auf die Entwicklung der Hofräte in den Reichsterritorien und insbesondere die in anderen von Karl V. regierten Herrschaftskomplexen bestehenden Gremien wäre wünschenswert gewesen.
Auf die Untersuchung der äußeren Institution und des Personals folgt eine statistische Untersuchung der Inanspruchnahme des Hofrates. Dabei vergleicht die Autorin die Protokolle und die Aktenüberlieferung in den Stichjahren 1544, 1551 und 1556. Während die zugrundeliegenden Quellen und ihre Aussagekraft breit dargelegt werden, ist die Beschreibung der dem gesamten Teil der Arbeit zugrundeliegenden digitalen Methodik äußerst untechnisch. Mithin bleibt unklar, mit welchem Typ von Datenbanken gearbeitet und mit welchen Mitteln diese ausgewertet wurden. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der digitalen Methodik wäre dies jedoch genauso wie eine Publikation solcher Datensätze zur Nachvollziehbarkeit und Nachnutzung wünschenswert. Die Ergebnisse dieser Analyse sind freilich höchst interessant: In Widerlegung der bisherigen Forschung habe der Hofrat Karls demnach nicht vor allem als Ansprechpartner für mindermächtige reichsunmittelbare Stände gedient, sondern sei primär von mittelbaren Reichsgliedern und Untertanen in Anspruch genommen worden. Geografisch sei der Reichshofrat vor allem im Südwesten des Reiches und in den sächsischen Reichskreisen aktiv gewesen, das Herzogtum Bayern und die durch den Hofrat Ferdinands regierten habsburgischen Erblande finden sich ebenso wieder, Reichsitalien dagegen kaum.
Zweifelsohne enthält die anschließende Untersuchung der Tätigkeit des Hofrates zahlreiche Erkenntnisse, welche als grundlegend für das Verständnis des frühneuzeitlichen Reiches gelten können: Überzeugend zeigt die Verfasserin auf, dass der Hofrat Karls V. keineswegs bereits als Instanz des ordentlichen Rechtsweges und damit als zweites Höchstgericht neben dem Reichskammergericht fungierte und auch kein politisches Beratungsgremium des Kaisers im engeren Sinne dargestellt habe. Vielmehr habe es sich bei dem Hofrat Karls V. um einen kaum normierten Parteienrat gehandelt, welcher in Vertretung des Kaisers als Ansprechpartner agiert habe. Im Sinne einer »akzeptanzorientierten Herrschaft« (534) habe der Hofrat zum Zwecke des Schutzes und der Fortschreibung des Rechts nur selten auf kaiserliche Befehle oder juristische Entscheidungen zurückgegriffen, sondern vor allem Empfehlungsschreiben, Schutzbriefe und andere Gunsterweise erlassen. Einerseits sei den Territorien trotz des regelmäßigen Eingriffes in ihre Angelegenheiten damit ein Handlungsspielraum verbleiben, womit die Gefahr einer Konfrontation mit denselben gebannt worden sei, andererseits habe sich der Hofrat so die zeitraubende eingehende Beschäftigung mit den Fällen erspart, die für endgültige Entscheidungen notwendig gewesen wäre.
Die weitgefassten Ansprüche des Werkes, entsprechende Erkenntnisse für die Reichsgeschichte und die Herrschaftsgeschichte Karls V. zu liefern, finden sich auf allen Betrachtungsebenen. Insbesondere die neuen Einsichten zur Inanspruchnahme und Tätigkeit des Hofrates möchte Ortlieb als Anstoß zur Neubewertung des späteren Reichshofrates außerhalb seiner gerichtlichen Tätigkeit verstanden wissen. Es bleibt zu hoffen, dass die Monografie, ihres Umfanges zum Trotz, dank ihrer feingliedrigen Struktur und des hilfreichen Glossars eine umfassende Rezeption der Erkenntnisse über die deutschsprachige Forschung zum Reich hinaus in der internationalen Forschung zur Herrschaft Karls V. findet. Denn das Werk leistet unzweifelhaft einen wichtigen Beitrag nicht nur für das Verständnis des Alten Reiches, sondern auch für die weltumspannende composite monarchy Karls V.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sven Dittmar, Rezension von/compte rendu de: Eva Ortlieb, Kaiserlicher Hofrat und kaiserliche Herrschaft unter Karl V. (1520–1556). Ein Beitrag zur Geschichte des Reichshofrats, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2024, 781 S., 7 Grafiken (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 79), ISBN 978-3-412-52967-3, DOI 10.7788/9783412529680, EUR 110,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113002





