Das hier zu besprechende Buch bietet das sogenannte Capitulare de villis, das vermutlich auf Karl den Großen zurückgeht, im Originalwortlaut mit französischer Übersetzung und einem Kommentar sowie verschiedenen Anhängen, die zu dessen Verständnis beitragen sollen. Das Kapitular ist unikal in der Handschrift Cod. Guelf. 254 Helmst. (1. Hälfte des 9. Jahrhunderts) der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel überliefert und war bereits oft Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Es ist die ausführlichste Quelle zur Bewirtschaftung und Verwaltung der Krongüter in karolingischer Zeit. Der Edition des Textes im Rahmen der MGH-Ausgabe von Alfred Boretius (1883)1 ist mittlerweile die 1971 erschienene neue kritische Edition von Carlrichard Brühl2 vorzuziehen. Die Herausgeberin hat offensichtlich weder die einschlägige Ausgabe von Boretius noch die jüngere von Brühl benutzt, sondern stattdessen den Text abgedruckt, der von Benjamin Guérard 1853 im Rahmen seiner Studie »Explication du capitulaire ›de Villis‹« publiziert wurde.3 Auf Guérard wird zwar bereits im Untertitel verwiesen (»Étude explicative Benjamin Guérard«), allerdings wird nirgends darauf hingewiesen, dass auch der lateinische Text ein Nachdruck von Guérard ist.
Dem Text vorangestellt ist eine Einleitung zu den Inhalten des Kapitulars und deren Bedeutung für die Hofhaltung der fränkischen Herrscher, an deren Ende sehr knapp und ohne Verweise auf die einschlägige Forschungsliteratur zur strittigen Frage der Datierung und Zuschreibung an Karl den Großen eingegangen wird (5–14). Auf eineinhalb Seiten (15–16) folgt eine kurze Beschreibung der unikalen Überlieferung.
Es folgt der Abdruck des lateinischen Textes (19–35) im Wortlaut des Abdrucks von Guérard, was z. B. an folgenden Stellen deutlich wird:
Capitulare de villis, c. 44: »nullatenus […] permittant« (28; so auch im Original und bei Guérard, Explication, 245). Die Übersetzung Desgrugillers’ lautet aber … »ils ne négligent pas«, was der von Boretius (und vor ihm bereits von Pertz) emendierten Fassung (praetermittant statt permittant) entspricht (49). Dieselbe Übersetzung bietet auch Guérard (Explication, 302), der allerdings auf die Emendation von Pertz verweist (Explication, 245 Anm. 3). Die entsprechende Anmerkung wurde in der Ausgabe von Desgrugillers jedoch weggelassen, sodass unklar bleibt, warum permittere mit négliger übersetzt wurde.
C. 62: »De fida facta« (32): Diese Lesung findet sich nur bei Guérard (Explication, 262); bei Boretius (Capitularia 1, 88) und Brühl (Capitulare de villis, 61) steht anstatt »fida« »fide« im Obertext.
Die französische Übersetzung (39–57) ist eng an die Übersetzung von Guérard angelehnt und scheint die modernere Übersetzung von Élisabeth Magnou-Nortier (1998)4 auf Basis der Neuedition von Brühl nicht berücksichtigt zu haben.
Es folgen drei Anhänge: Zunächst eine Liste der Pflanzen aus c. 70 des Capitulare de villis (61–64) in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Kapitular und nicht alphabetisch, was den praktischen Nutzen der Übersicht schmälert. Im weitaus umfangreichsten Teil des 182 Seiten umfassenden Bändchens (65–175) wird die kapitelweise Kommentierung Guérards im Anschluss an einen erneuten Abdruck des Textes der einzelnen Kapitel wiedergegeben, und zwar in einer von der Herausgeberin gekürzten Fassung. Die Kriterien für diese Kürzungen werden wie folgt erläutert: Weggelassen worden seien z. B. die Referenzen auf die deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts, die zeittypischen Werturteile Guérards über die Fähigkeiten des Schreibers oder die schlechte Latinität des Textes sowie »sur telle ou telle personne, contemporaine du texte ou de l’époque carolingienne« (65). Damit sind wahrscheinlich Kürzungen gemeint wie im Kommentar zu c. 16 (94), wo »le moine de Saint-Gall« steht anstatt, wie bei Guérard (Explication, 193), »le romantique et romanesque moine de Saint-Gall«. Zudem sei der Stil an moderne Syntax angepasst und die lateinischen Zitate aus den anderen von Guérard in seiner Erläuterung herangezogenen Quellen ins Französische übersetzt worden.
Bei einem Vergleich mit dem Text von Guérard zeigt sich jedoch, dass auch große Teile seiner inhaltlichen Erläuterung einzelner Kapitel weggelassen wurden, ohne dass dies begründet oder an der entsprechenden Stelle auf die Auslassung hingewiesen würde (z. B. bei c. 2 oder c. 16, wo der gesamte Teil mit der Forschungsdiskussion zum im Kapitel erwähnten Amt des buticularius [Guérard, Explication, 196–200] stillschweigend übersprungen wurde; in c. 23 auch einmal eine Stelle, in der Guérard [Explication, 209] eine Emendation erläutert). Der gravierendste Eingriff in den Text wird jedoch nicht erwähnt: Sämtliche Fußnoten in Guérards Kommentar, die vor allem Referenzen auf die Forschungsliteratur enthalten, wurden weggelassen (manchmal wurde aber auch der Text aus der Fußnote einfach in den Haupttext verfrachtet, wie im Kommentar zu c. 51 [148]; vgl. Guérard, Explication, 254 Anm. 1). Das führt dazu, dass die von Guérard diskutierten Forschungsmeinungen mit Nennung der jeweiligen Namen stehengeblieben sind, ohne dass man die Chance hat, den jeweiligen Bezug zu einer Publikation herzustellen.
Im letzten der drei Anhänge werden die verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen des Textes in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (177–180), wobei die getroffene Auswahl nicht recht nachvollziehbar ist, wenn etwa die einschlägige Edition von Étienne Baluze nicht in der Erstausgabe von 1677, sondern nur in der von Pierre Chiniac de La Bastide herausgegebenen Ausgabe von 1780 angeführt wird.
Insgesamt ist man ein wenig ratlos, für welches Publikum der Band gedacht ist: Für Fachhistorikerinnen und Fachhistoriker ist die Ausgabe unbenutzbar, und für ein breites Publikum bleibt sie trotz der »Modernisierungsversuche« in weiten Teilen unverständlich. Allenfalls als Lektürehilfe im (französischen) akademischen Unterricht ist ein sinnvoller Einsatz vorstellbar, doch wird auch diese Klientel von dem mit Forschernamen wie Anton, Kinderling oder Tresenreuter (die allesamt noch nicht einmal in der Bibliographie auftauchen) gespickten Erläuterungstext sicherlich eher verschreckt als zur näheren Beschäftigung mit dem Thema angeregt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Britta Mischke, Rezension von/compte rendu de: Nathalie Desgrugillers (éd.), Le capitulaire carolingien de terres et cours impériales (de villis et curtis imperialibus). Texte latin du manuscrit de Wolfenbüttel, Helmst. 254 et traduction française. Étude explicative Benjamin Guérard, Clermont-Ferrand (Éditions Paleo) 2024, 182 p. (L’encyclopédie médiévale), ISBN 979-10-333-0124-0, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113169





