Inschriften bleiben leider allzu oft ein Randthema der Forschung. Sie sind mühsam zu entziffern, meist in Latein und nicht immer gut sichtbar. Doch wer liest, ist klar im Vorteil, wie auch der vorliegende Band zeigt, der im Rahmen des von der DFG finanzierten und an der Universität Heidelberg angesiedelten SFB 933 »Materiale Textkulturen« entstand. Von der Untergruppe »Sakralisierung« sind bereits mehrere Bände erschienen, die alle online zugänglich sind (https://www.materiale-textkulturen.de/publikationen.php). Sie beschäftigen sich mit der unterschiedlichen Sichtbarkeit von Inschriften (2014, 2018) und mit dem Zusammenspiel von realem und imaginärem Raum (2019). Im Fokus steht dabei generell die Frage nach dem Beitrag von Inschriften zur Sakralisierung von Räumen und dem demonstrativen Einsatz von Schrift zur Beglaubigung, Legitimierung und Stabilisierung von Heiligkeit.
Der Band beschäftigt sich mit den visuell-ikonischen Aspekten von Inschriften im Kirchenraum und an dort verwendeten Gegenständen. Er greift damit ein Thema auf, das in der Forschung bereits verschiedentlich thematisiert (Stefano Riccioni 2008; Jeffrey Hamburger 2011; Jan Assmann 2012) und von der Forschergruppe um die Herausgeberinnen und den Herausgeber auch in ihrer Veröffentlichung zu restringierter Schriftlichkeit (2014) formuliert wurde, nämlich ob Inschriften primär immer gelesen oder auch nur gesehen werden sollten. Es geht damit um die Kluft zwischen dem immanenten Anspruch von Texten und Inschriften nach Lesbarkeit, Textverständnis und Erinnerungshilfe einerseits und ihrer bildlichen Qualität andererseits, die auf eine gesamthafte Wahrnehmung zielt.
Die Aufsätze zu diesem Band stellen eine Auswahl von Beiträgen zu einer Tagung dar, die im Januar 2021 in Heidelberg stattgefunden hat. Lag der Akzent der Tagung noch stärker auf der Frage der Präsenz von Inschriften im Kirchenraum, hier verstanden als »Ikonizität und Wirksamkeit«, so wird der Zusammenhang mit der Liturgie in den einzelnen Beiträgen nur noch fallweise betrachtet. Die elf Aufsätze loten den Kirchenraum jedenfalls in verschiedene Richtungen aus und beschäftigen sich mit der Präsenz und Wirkung von Inschriften in Apsis- und Sanktuariumsdekorationen, an Altären, Pyxiden, Leuchtern, Retabeln, Bucheinbänden und Fenstern sowie an einzigartigen Ausstattungsstücken wie der Anastasisrotunde in Jerusalem. Eine Vollständigkeit oder Systematik ist nicht angestrebt, die Objekte bleiben isoliert. Das wichtige Verdienst dieses Bandes liegt darin, dass er Perspektiven für eine gesamthafte Betrachtung des Kirchenraumes und der in ihm zum Einsatz kommenden Objekte aufzeigt und für die Zukunft fordert.
Die Mehrzahl der behandelten Werke stammt aus dem Gebiet der deutschen Kunst, doch auch Katalonien, Rom, niederländische Retabel und vereinzelt französische Beispiele kommen zur Sprache. Insgesamt überrascht aber der geringe Anteil an französischen und italienischen Beispielen, zumal angesichts der weit verbreiteten Inschriftenkultur dortiger Kunstwerke. Doch ist der Band bereits stattlich genug, sodass die Ausweitung der hier entwickelten Fragestellung auf andere Gebiete und Regionen ein Desiderat zukünftiger Forschungen bleibt.
Der chronologische Rahmen geht von frühchristlichen Beispielen bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts und deckt damit das Mittelalter weitgehend ab. Aspekte der Chronologie werden jedoch nicht thematisiert. Die Frage antiker Inschriftentraditionen wird damit ebenso ausgeblendet wie die nach regionalen Entwicklungen und historischen Besonderheiten. Es sind allein die übergreifenden Beiträge des Bandes – Matthias Untermann zu später hinzugefügten Altarinschriften, Susanne Wittekind zu den katalanischen Apsisdekorationen – die weitere historische Perspektiven eröffnen.
Die Beiträge, deren Reihenfolge unklar bleibt, berühren grosso modo vier Themengebiete: das Sanktuarium und seine Ausstattung, Objekte des heiligen Kultus, Retabel und andere begleitende Bildausstattungen sowie textliche Rezeptionsformen. Zentral für das Thema der Sanktuarien und ihrer Ausstattung ist der Aufsatz von Matthias Untermann zu Inschriften auf mittelalterlichen Altären, die sich hauptsächlich in Südfrankreich und Katalonien, also zwei Kernbereichen romanischer Kunst, erhalten haben. Die Inschriften, von denen die meisten erst nachträglich hinzugefügt wurden, beziehen sich auf Stifter, Reliquien oder die Weihe des Altares. Untermann fragt hier nach den Kategorien dieser »spontanen Schriftlichkeit«, zumal die Graffiti selten im Zusammenhang mit anderen Inschriften im Kirchenraum stehen. Deutlich wird die Zugänglichkeit des Altares und seine besondere Rolle als Ort der Kommunikation, die sich nicht nur aus der onomastischen Reichhaltigkeit der Inschriften erschließt, sondern auch in ihrer historischen Bedeutung für die Entwicklung der pragmatischen Schriftlichkeit: Erscheinen Weihinschriften bereits ab dem 7. Jahrhundert auf Altären, sind sie erst ab dem 9. Jahrhundert auf besiegelten Pergamenturkunden nachweisbar. In einem weiteren zentralen Aufsatz des Bandes behandelt Susanne Wittekind Inschriften in katalanischen Sanktuarien. In eindrücklicher Klarheit zeigt sie Kategorien und Variationen der gemalten Apsisprogramme auf. Ihr Beitrag eröffnet wesentliche Rückschlüsse auf die Planungsstruktur bildlicher Apsisdekorationen, die über die Liturgie hinaus inhaltliche Akzente im Kirchenraum setzen.
Eine zweite Gruppe von Aufsätzen widmet sich Objekten des heiligen Kultus – verschiedenen Kerzenleuchtern und ihren Inschriften (Vera Henkelmann), dem Einband des Bamberger Evangeliars und der unklaren Bedeutung einer arabischen Gemme (Katharina Theil) sowie, vorbildlich in der Objektanalyse, einer Pyxis vom Anfang des 14. Jahrhunderts (Jochen Hermann Vennebusch). Oft nur im Zusammenhang mit dem liturgischen Messgeschehen auf dem Altar anwesend, zielen ihre Inschriften neben der omnipräsenten Stiftermemoria auf die Akzentuierung sakramentaler Präsenz.
Eine weitere Gruppe von Beiträgen behandelt Inschriften in Retabeln von Rogier van der Weyden (Lea Pistorius) und Konrad Witz (Fiammetta Campagnoli) sowie in malerischen Bildfolgen, wie es ein Glasfenster aus Gronau dokumentiert (Lisa Horstmann), das enge Anleihen an Stefan Lochner († 1451) aufweist. Diese Objekte weisen eine besonders große Bandbreite von Inschriftenformen auf, deren unterschiedliche Bedeutung und gezielte Verwendung vom hohen Reflektionsniveau der Künstler und Auftraggeber zeugt. Im Zusammenhang mit dem Pauluswort Littera enim occidit, spiritus autem vivificat werden unleserliche Schriftzeichen hier sogar zu einer ikonischen Abbreviatur reduziert. Den Band beschließen als letzte Gruppe zwei Aufsätze zum Heiligen Grab der Anastasisrotunde in Jerusalem (Estelle Ingrand-Varenne) und zu Rezeptionsfragen in deutschen mystischen Texten des 13. Jahrhunderts (Dennis Disselhoff).
Der Band ist insgesamt hoch interessant und eröffnet neue Perspektiven für die Forschung. Bessere Abbildungen (Autoren sind nicht immer begabte Photographen, und das Betrachten trägt doch wesentlich zu Verständnis und Wirkung des Geschriebenen bei) und eine sorgfältigere Edition der uneinheitlichen Bildlegenden hätten die Qualität des Bandes noch steigern können. Es ist leider nicht üblich, am Ende eines solchen Bandes eine Bilanz zu ziehen, aber ein Kommentar der Herausgeberinnen und des Herausgebers am Ende der Einleitung hätte die Ergebnisse und damit den innovativen Ansatz der Tagung konkreter resümieren können. Der vorliegende Schritt, neue Wege zur Verknüpfung von Bildern, Inschriften und liturgischen Interaktionen im Kirchenraum zu erkunden und dabei den Unterschied zwischen Lesen und Schauen zu betonen, wird ohne Zweifel wichtig für zukünftige Forschungen sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Nicolas Bock, Rezension von/compte rendu de: Tobias Frese, Lisa Horstmann, Franziska Wenig (Hg.), Sakrale Schriftbilder. Zur ikonischen Präsenz des Geschriebenen im mittelalterlichen Kirchenraum, Berlin, Boston (De Gruyter) 2024, VIII–297 S. (Materiale Textkulturen, 42), ISBN 978-3-11-130386-4, DOI 10.1515/9783111304496, EUR 89,95., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113172





