Wiewohl der vorliegende Band einleitend unter das Zeichen der in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (Cod. conv. 1–15) aufbewahrten Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts aus dem heute nicht mehr existierenden Hamburger Beginenkonvent an der Steinstraße bei St. Jacobi gestellt worden ist, bietet er in Fortführung eines am 29. und 30. November 2019 in der SUB Hamburg veranstalteten Workshops »Der Hamburger Beginenkonvent im Kontext beginischer Literatur und Lebensformen« einen umfassenden, neuen Forschungsstand zu jenem Konvent. Ergänzende, teils komparatistisch zu verstehende Beiträge hinzugenommen, lässt sich der Band auch systematisch unter Aspekten der Erfassung von Formen religiösen Zusammenlebens, zumal in Zeiten der spätmittelalterlichen Klosterreformen, lesen.
Die dafür benötigten interdisziplinären mediävistischen Zugänge leisten hier Beiträge aus der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte, der Buchwissenschaft, der Kirchengeschichte und der Musikwissenschaft. Der Einleitung der Herausgeberinnen folgt ein eingehender Forschungsbericht »Zur Erforschung des Beginenwesens im deutschsprachigen Raum vom 17. bis zum 21. Jahrhundert« von Jörg Voigt. Als »urteilsstark[…]« in der Diktion der Herausgeberinnen (12) mag auch zu verstehen sein, wie Voigt benannten Verfasserinnen feministisch orientierter geschichtswissenschaftlicher Beiträge »eine vertiefte Kenntnis der Quellen« abspricht (24–25, Anm. 28) oder »trotz ihrer stellenweise unkritischen feministischen Ausrichtung« zuspricht (28). Regionalisierung wird als neuere Ausrichtung der Beginenforschung auch im Hinblick auf den Hamburger Beginenkonvent bei St. Jacobi thematisiert.1
Im ersten Teil »Historischer Kontext und Lebensumfeld« (35) sind zwei Beiträge mit sozial-, wirtschafts- und alltagsgeschichtlichen Perspektiven zusammengestellt. Jürgen Sarnowsky: »Die Hamburger Beginen im religiösen Leben Hamburgs im 15. und 16. Jahrhundert« erörtert religiösen Einbezug in Gestalt der zunehmenden Eingriffe des Domkapitels in die Ordnungen der Beginen und der damit einhergehenden, sich verstärkenden Hierarchisierung. Schenkungen und Stiftungen, insbesondere auch in Testamenten oder als Memorienstiftungen, verweisen auf die religiös-wirtschaftliche Verflochtenheit der Beginen mit dem städtischen Bürgertum im Sinn einer »weite[n] Akzeptanz« (46) des Beginenkonvents.
Sarah Bongerminos Untersuchung von »Verbrauchsgewohnheiten der Hamburger Beginen um 1500« lässt die Hamburger Beginen als einer gehobenen Sozialschicht zugehörig erscheinen. Dem seit 1482 geführten Rechnungsbuch der Meisterin des Konvents Wibeke Wyge zufolge, das in der von Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt kurz vor seinem Tod 2015 noch fast gänzlich fertiggestellten Edition von Rechnungsbüchern veröffentlicht ist, kauften die Beginen 1505 und 1506 diverse Fischsorten und Fleischarten bzw. lebende Tiere. Saisonale Rhythmen ihres Konsums werden erwähnt.
Der folgende Teil gilt dem geistlichen Leben: »Liturgie und Gebet« (63). Etwa 150 Seiten nimmt eine kommentierte, synoptische Edition mit einer liturgiegeschichtlich komparatistischen Auswertung ein: »Die ›Marientiden‹ der Hamburger Beginen (Hamburg, SUB, Cod. conv. 2) und die zugrunde liegenden Elemente der ›offiziellen‹ (lateinischen) Liturgie« von Philipp Stenzig. Er stellt fest, »dass sich für alle Elemente des niederdeutschen Marienoffiziums eine liturgische [d. h. aus dem Lateinischen stammende] Vorlage benennen lässt« (157) und dass diese »dem Usus, der in den diözesanen Brevieren der Zeit zu finden war« (185), und damit nicht dem Officium parvum beatae Mariae virginis im Bursfelder Brevier entspreche. Zahlreiche Vergleiche lassen einen Überblick über die norddeutschen Fassungen des niederdeutschen wie lateinischen Marienoffiziums in den Grenzen der einschlägigen Kirchenprovinzen und Diözesen entstehen. Die hamburgischen Marientiden verweisen darauf, dass Beginen anders als andere Religiosen nicht zum vollständigen liturgischen Offizium verpflichtet waren.
Mit dem Begriff »Gebetskultur« greift Martina Wehrli-Johns die Fragen religiöser Praktiken der Beginen auf: »Die Gebetskultur der Hamburger Beginen vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Reformbewegungen«. Sie legt die Folgen der Unterstellung des Konvents bei St. Jacobi unter die Aufsicht des Hamburger Domdekans dar und beschreibt Bezüge zur Devotio moderna in Hamburg, wie sie auch an ausgewählten Handschriften aus dem Bestand der Hamburger Beginen ablesbar sind.
Im Sinn eines Vergleichs untersucht Petra Bernicke »Das religiöse Leben in den kleinen Essener Frauenkonventen unter der Herrschaft der Äbtissinnen«. Gegen »ein verklärtes Bild der frommen Frauen« in feministischer Forschung, das »auch durch zum Teil überzogene Betrachtungsweisen« entstanden sei (244), sich wendend führt sie die freiwillige Unterstellung des Essener Beginenkonvents unter den »Schutz und [die] richterliche Gewalt« (245) der Äbtissin des Essener Frauenstifts an. Dass zwischen derlei den »Zugang von Männern (in den Konvent) auf das Nötigste beschränk[enden]« (244) Herrschaftsstrukturen und der »patriarchalisch strukturierten Ehe und Familie« (ebd.), die die Beginen womöglich vermeiden wollten, signifikante Unterschiede bestanden haben, sollte jedoch nicht nivelliert werden. Soweit es die erhaltenen Quellen erlauben, lassen sich für die Essener Beginenkonvente Tagesabläufe mit Gebets- und Arbeitszeiten rekonstruieren. Handschriften haben sich nur aus dem Konvent Kettwig erhalten.
Mit Martina Bicks Beitrag tritt »Musikausübung in Beginenhöfen. Ein Überblick« ins Blickfeld. Angesichts der Knappheit an Quellen für nicht-liturgischen Gesang in norddeutschen Beginenkonventen ist aufschlussreich, dass die Hamburger Handschrift Cod. conv. 1 den Text des Liedes »Droch werlt/my gruwet vor dyn wesent« enthält, das auch in Liederbüchern, etwa aus den Heideklöstern, überliefert ist und hier synoptisch in seinen Fassungen präsentiert wird.
Mit »Selbstdarstellung und Selbstverständnis« (281) ist der dritte Teil des Bandes überschrieben. Aus ihrer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Konvent bei St. Jacobi greift Hedwig Röckelein einen Gebetszettel aus dem Cod. conv. 1 auf: »Civitatem istam tu Domine circumda. Der Hamburger Beginenkonvent in der Steinstraße – eine himmlische Stadt?« Die Widmung »In memoriam Agathe Lasch (1879–1942)« (283) gilt der Forscherin und ersten Professorin an der Universität Hamburg im Fach Niederdeutsche Philologie, die 1934 aus dem Staatsdienst entlassen und im August 1942 von Berlin nach Riga verschleppt und dort ermordet worden ist (312–313). Zur Deutung des im Titel angesprochenen Responsoriums entfaltet Röckelein detailreich die Baugeschichte des Beginenkonvents an der Steinstraße nach nachmittelalterlichen Architekturzeichnungen sowie je zeitgenössischen urkundlichen Materialien und Rechnungsbüchern der Meisterinnen. Dem palastartigen zweigeschossigen Konventsgebäude schreibt sie auch symbolische Bedeutung und spirituelle Aspekte im Sinn einer Orientierung auf das apokalyptische himmlische Jerusalem und also das zukünftige Jenseits zu.
»Die Handschriften der Hamburger Beginen als Spiegel der Identität?« fragt Monika E. Müller und erweitert diese Frage zu einer solchen nach der Buchkultur der Hamburger Beginen. Eindrücklicher Ausgangspunkt ist eine kolorierte Federzeichnung im Cod. conv. 8, die eine Begine mit einer sekundären Namenszuschreibung zeigt. Buchproduktion im eigenen Hamburger Konvent lasse sich nicht erweisen, aber Müller plausibilisiert Prozesse gestalterischer Aneignungen in und an Handschriften, die im Zuge von Nutzung und Weitergabe Elemente individualisierender Bezüge erhalten konnten. Identität wäre dann in der Spannung zwischen z. B. der Erzeugung von Selbstdarstellung und dem Selbstverständnis der Beginen als ancillae Dei zu suchen.2
Vergleiche ermöglicht Gia Toussaint: »Die Selbstdarstellungen der Nonnen im Medinger Konvent«. Sie weist überzeugend nach, dass das sehr reich ausgestattete Medinger Gebetbuch für die Osterzeit, Hildesheim, Dombibliothek, Hs J 29, das 1478 vor Einführung der Reform (1479) fertiggestellt worden ist, aufgrund seiner Illuminationen in keinerlei Zusammenhang mit der zeitgenössischen Klosterreform gebracht werden kann. Kriterien sind die weißlichen, blaugehöht gezeichneten Kleider der Nonnen, mittels derer diese sich am Ostertag mit den analog dargestellten Engeln, ihren Vorbildern im Leben, identifizieren konnten, die Darstellung des Zusammentreffens der Nonnen mit der weltlich lebenden Bevölkerung an diesem Tag und die Darstellung orgelspielender Nonnen. Statt zuvor runder, finden sich nach Einführung der Reform spitz zulaufende Schleier, ohne dass sich ein Kausalzusammenhang belegen ließe.
Ein Register der zitierten Handschriften und farbige Tafeln beschließen den überdies mit zahlreichen Abbildungen in den Beiträgen versehenen Band, der infolge der immer wieder angestellten Vergleiche die Forschung deutlich weiterreichend als nur für den Hamburger Beginenkonvent voranbringt. Dessen Spezifik erscheint in seinem Verhältnis zum Domklerus, im architektonischen Körper des Konventsgebäudes im städtischen Kontext, in den Konsumgewohnheiten der Beginen sowie in den Handschriftenbeständen der Schwestern und damit verbunden ihrer liturgischen Praxis. Interessierte an zumindest den eingangs genannten Disziplinen werden den Band mit großem Gewinn lesen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabine Schmolinsky, Rezension von/compte rendu de: Barbara Müller, Monika E. Müller (Hg.), Die Hamburger Beginen bei St. Jacobi im Kontext ihrer Handschriften und Kultur, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2022, XVI–376 S., 19 s/w Abb., 26 farb. Abb. (Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne, Bd. 21), ISBN 978-3-515-13201-5, DOI 10.25162/9783515132077, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113177





