Die Nummer XXXII der Zeitschrift Micrologus. Nature, Sciences and Medieval Societies beschäftigt sich mit einem Phänomen, das für ganz unterschiedliche Bereiche der historischen Wissenschaften relevant ist. Es geht um das Hörensagen und den Umgang mit dieser Wissensquelle bzw. Meinungsinstanz. Der Band vereint zusätzlich zu einer Einleitung 20 Beiträge, die sich mit Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Rechtsprechung, Theologie und Literaturgeschichte in der Zeit zwischen der klassischen Antike und dem 18. Jh. beschäftigen. Die Vielfalt der angesprochenen Themen ist beeindruckend, ebenso die Tatsache, dass sich hier Wissen(schaft)sgeschichte Phänomenen der Sozialgeschichte öffnet. Wie in den übrigen Bänden der Zeitschrift werden die Beiträge von äußerst nützlichen Registern (615–642) begleitet. Die durchweg hervorragend dokumentierten und teilweise wie Monographien aufgebauten Beiträge bieten deshalb eine mehr als solide Basis, um sich einer Kulturgeschichte des Hörensagens in der Vormoderne zu nähern.

Angesichts des umfassenden thematischen Spektrums überrascht es allerdings, dass die Beiträge im Band nur chronologisch geordnet sind und die Einführung (Francesco Santi, »Introduction«, VII–XII) zu vage bleibt, um die Verbindungen zwischen den Fallbeispielen transparent zu machen. Die Fokussierung auf das »staging« oder die »stylistics« des Hörensagens (VIII) reichen meines Erachtens nicht aus, ebenso nicht die eher assoziative Evokation der einzelnen kommunikativen Instanzen, die beim Hörensagen aktiviert sind. Der Verweis auf Mündlichkeit, das ›Volk‹ und die problematische epistemische Wertung des Hörensagens (VII–VIII) zeigen, dass ein prototypischer Begriff des Hörensagens aufgerufen werden soll. Die Unterschiede zwischen den Themen, die die einzelnen Beiträge behandeln, sind aber so groß, dass auch dieser flexible Begriff als gemeinsames Zentrum nur bedingt einleuchtet.

Ich schlage deshalb eine neue, inhaltliche Gruppierung der Beiträge vor: Eine erste Gruppe widmet sich der Frage, wie Wissenstexte, teilweise auch literarische Texte, mit dem Problem der Wahrheit und der Faktizitätskontrolle umgehen. Man vergleiche hier Renzo Tosi (»La diceria nei proverbi antichi e moderni«, 3–21) und Bruna Pieri (»›Ut fama est‹: La voce del poeta tra diceria e asseverazione. Sondaggi nella letteratura latina antica e tardo antica«, 23–40), die sich mit der Autorität der »sapienza […] popolare« (3) und der Bewertung des literarischen Schreibens als Imagination oder/und als Lüge beschäftigen. Iolanda Ventura (»›Dicitur‹ tra ›auctoritas‹, normatività ed ›opinio‹ nelle enciclopedie medioevali«, 245–285) und Monica Azzolini (»Marvellous Natural Particulars: Testimony, Rumour, and Proof in Ulisse Aldrovandi’s Work«, 567‑591) untersuchen die Problematik an lateinischen Enzyklopädien des 13. Jh. bzw. in naturkundlichen Schriften des 18. Jh. und zeigen, wie problematische Wissensquellen wie etwa ältere kanonische oder nicht kanonische Literatur bzw. Berichte von Reisenden, Seeleuten oder Fischern in die Wissen(schaft)stexte integriert werden, indem die Unterschiede hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit explizit gemacht werden. Auch Roberto Gamberini (»Diceria, testimonianza, percezione e rappresentazione della realtà in Rodolfo il Glabro«, 113–129) und Francesco Santi (»La Scolastica usa la diceria? Un caso in tre sermoni di Bonaventura di Bagnoregio a proposito dell’invenzione dell’icona della Pietà«, 219–229) widmen sich der Integration von problematischen Wissensquellen, bei Bonaventura nicht zufällig im Rahmen seiner Predigten, nicht in seinen theologischen Schriften, bei Raoul Glaber dagegen im autoritativen Rahmen seiner Historiae, weil ihm sein heilsgeschichtlicher Interpretationsrahmen die Sicherheit gibt, selbst über den Wahrheitsgehalt von Gerüchten, Visionen oder ähnlichem entscheiden zu können. Die gegenteiligen Strategien, die Abwertung von Frauen, Visionären und anderen Akteuren ›populärer‹ Wissenszusammenhänge, thematisieren José Carlos Santos Paz (»Interacción entre profecías y rumores en la Baja Edad Media«, 287–310) und Marina Montesano (»Chiacchiere nel filatoio. Gli Evangiles des Quenouilles fra genere, età, interpretazioni«, 403‑418).

Der Beitrag von Jean-Yves Tilliette (»La fortune littéraire du portrait de ›Fama‹ par Virgile (Aen. 4, 173–190) jusqu’à la fin du Moyen Âge«, 41–64), der den metonymischen Übergang von fama als »üble Nachrede« zu fama als »Renommee« thematisiert, leitet über zu den nicht mehr wissensgeschichtlich, sondern sozial- und rechtsgeschichtlich relevanten Beiträgen des Bandes. Lucia Castaldi (»La leggenda della dannazione di Carlo Martello e la sua attestazione all’interno di un ramo francese della Vita Gregorii di Giovanni Immonide«, 65–111), Jeroen Deploige (»›Caculatores ac susurratores‹. Rumeurs, ragots et ouï-dire dans l’hagiographie des abbayes Saint-Pierre et Saint-Bavon à Gand, Xe–XIe siècles«, 131–151) und Agostino Paravicini Bagliani (»›Ut dicitur, femina fuit‹. La diceria nella leggenda della Papessa«, 195–218) thematisieren zwar auch, wie problematisches Wissen sprachlich ausgewiesen wird. Wichtiger scheint mir aber, dass die hier angesprochenen Fälle auch für die Zeitgenossen als Unterstellungen und Gerüchte erkennbar waren, weil sie in den politisch-sozialen Auseinandersetzungen entsprechend funktionalisiert wurden. Das Hörensagen inszeniert in den genannten Fällen also bewusst seine zweifelhafte Geltung, um ein unsicheres »présent continu« (430) zu erzeugen, das sich ohne gesicherte Fakten nicht in die Zukunft weiterentwickeln kann. Élodie Lecuppre-Desjardin zeigt dies in ihren Überlegungen zur politischen Funktion von Gerüchten im England und Frankreich des Spätmittelalters (»La rumeur entre présent immédiat et présent continu: les effets d’une histoire différentielle sur la société politique médiévale«, 419–433), ebenso Jean-Patrice Boudet, der beschreibt, wie Astrologen die Glaubwürdigkeit von Gerüchten zu bestimmen versuchten (»La rumeur des astrologues«, 311–341).

Danielle Jacquart (»Ce que les médecins disent que l’on dit d’eux (XIIIe–XIVe s.)«, 231–244) und Luca Tonetti (»›Fingeranno casi e favole‹: dicerie e reputazione del medico nella Bologna di età moderna. Il caso di Marcello Malpighi«, 593–614) zeigen, dass auch Wissensexperten in diese Dynamik von öffentlich gemachten Unterstellungen und persönlicher Reputation eingebunden sein können. Welche Macht die (städtische, regionale) Öffentlichkeit hier gewinnen konnte, belegen die Beiträge von Maxime Gelly‑Perbellini (»Rumeurs et soupçons de sorcellerie dans le royaume de France à la fin du Moyen Âge [XIVe–XVe siècles]«, 343–370), Martine Ostorero (»›Sorcière‹, ›fils de vaudois‹! Comment réagir face à la rumeur infamante de sorcellerie? [duché de Savoie‑Suisse occidentale, XVe–début XVIe siècles]«, 371–402) und Jacques Chiffoleau (»La rumeur de Nantes. L’interminable histoire des crimes de Gilles de Rais«, 435–565) zur frühneuzeitlichen Hexenverfolgung. In diesem Zusammenhang kommt dem Beitrag von Julien Théry (»›Fama‹: Public Opinion as a Legal Category: Inquisitorial Procedure and the Medieval Revolution in Government [12th–14th centuries]«, 153–193) eine Schlüsselposition zu. Théry zeigt, wie im Zuge der Juridisierung der kirchlichen Häresieverfolgung im 13. Jh. die öffentliche Bewertung einer Person, ihre fama, Rechtsstatus erhielt und eine Person, wenn gegen sie eine Denunziation wegen Häresie, Hexerei oder Majestätsbeleidigung erfolgte, in lebensbedrohliche Prozesse verwickelt werden konnte. Hier ergaben sich also Konstellationen von Hörensagen, Gerüchten und Unterstellungen, in der der Mechanismus der Faktizitätskontrolle gar nicht in Betracht gezogen wurde und nur eine intakte soziale Anerkennung und eine ausreichend starke Integration der Beschuldigten in die betreffende gesellschaftliche Umgebung als Gegenmittel einsetzbar waren. Ähnlich wie bei den bewusst gestreuten Gerüchten müsste man die Analyse der Mechanismen des Hörensagens nochmals neu justieren und den Unterschied zum Bereich der Wissenskommunikation eher hervorheben, als ihn einzuebnen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Maria Selig, Rezension von/compte rendu de: Agostino Paravicini Bagliani (ed.), »Dicitur«. Hearsay in Science, Memory and Poetry, Firenze (SISMEL – Edizioni del Galluzzo) 2024, XII–642 p. (Micrologus, 32), ISBN 978-88-9290-263-3, EUR 90,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113179