Welchen Wert Artefakte aus Elfenbein hatten, was sie über den Status ihrer Käuferinnen und Käufer aussagen und inwieweit sie ihnen Orientierung geben konnten, insbesondere in einer von Krisen behafteten Zeit – das sind die zentralen Fragen, die im Oktober 2022 im Rahmen der gleichnamigen Konferenz Gothic Ivories between Luxury and Crisis an der Universität Bern gestellt wurden. Elementar für das vom SNF geförderte Projekt Love and War on Gothic Ivories und den aus ihm hervorgehenden Tagungsband ist die Beobachtung, dass sich gerade für das 13. und 14. Jahrhundert in Frankreich und vor allem in Paris eine Blüte in der Produktion von qualitativ hochwertigen, extrem luxuriösen Elfenbeinarbeiten beobachten lässt. Hergestellt wurden Gegenstände des Alltags (Kästchen, Schreibtafeln, Spiegelkapseln, Kämme), deren Ausgestaltung mehrheitlich Themen des höfischen Lebens oder zeitgenössischer Romane berührte. Diese wurden von ihren Besitzerinnen und Besitzern offenbar nicht nur wegen des verwendeten Materials geschätzt – Elfenbein galt als kostbar und selten, nicht zuletzt wegen der schwierigen Transportwege – sondern auch, weil die dargestellten Szenen moralische Vorstellungen, mitunter geheime Wünsche und die aktuelle Mode – schlicht: den Zeitgeschmack – spiegelten.

Bemerkenswert erscheint diese Entwicklung vor dem Hintergrund jener Krisen, die die Herausgeberin eindrücklich skizziert: Neben (Natur-)Katastrophen wie der Kleinen Eiszeit oder den Pestepidemien führten militärische Konflikte – etwa der Hundertjährige Krieg – zu tiefgreifenden Veränderungen der sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung.

Den Autorinnen und Autoren oblag es, mit Ausnahme der Einleitung von Paul Williamson, sich mal mehr, mal weniger offensichtlich der Seite des Luxus oder der Krise zu verschreiben und den ausgewählten Artefakten und Artefaktgruppen mit aktuellen Fragen und Forschungsansätzen zu begegnen. Beispielhaft seien nur vier Studien umrissen:

Lina Roy zeichnet in ihrem Beitrag minutiös die wechselvolle Geschichte jener Sammlung von Gipsabgüssen nach, die sich heute im Musée des Moulages der Université Lumière Lyon 2 befindet. Einen Aufschwung erlebte die Praxis, Abgüsse – wie hier von Elfenbeinen – anfertigen zu lassen, zum Ende des 19. Jahrhunderts. Museen verfügten über eigene Werkstätten und auch private Sammlungen erfreuten sich großer Beliebtheit, sodass sich insbesondere im französischen und britischen Raum ein hochqualitativer Markt etablierte. Die Sammlung wurde vermutlich auf Initiative des Musée de la Chambre de commerce de Lyon angelegt (131, Anm. 25) und diente wohl der Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Seidenmanufakturen der Stadt. Im Zuge der studentischen Proteste der 1960er- und 1970er-Jahre gingen wertvolle Teile des umfangreichen Bestandes verloren, der vormals Werke vom 4. bis zum 14. Jahrhundert, mit einem Schwerpunkt auf Elfenbeinen des 9. bis 12. Jahrhunderts versammelte. Der eindrückliche Bericht der Autorin eröffnet einen Einblick in ein gleichsam unterrepräsentiertes wie aussagekräftiges Forschungsfeld.

Einem Skandal ganz anderer Art widmet sich Sarah M. Guérin: Die bisherige Forschung verortete Elfenbeinkästchen (»composite caskets«) bislang primär in der Geschenkkultur der Minne. Doch ist ihre Übergabe im Kontext von Hochzeiten oder diplomatischen Begegnungen kaum belegt – Publikum und Funktion säkularer Elfenbeine bleiben weitgehend unklar. Guérin untersucht mit scharfem Blick ausgewählte Beispiele – etwa die Besitztümer Klementines von Ungarn oder Artefakte mit bildlichem Bezug zur Affäre um die Tour de Nesle – und zeichnet so die sozialen und ökonomischen Netzwerke der Auftraggeberinnen und Auftraggeber, sowie der Händler und Produzenten nach. Sie kommt zu dem Schluss, dass a) Elfenbeinobjekte nicht nur romantische Geschenke von Männern an Frauen waren, sondern von allen Gruppen auch selbst erworben wurden; dass b) sie der Anregung von Fantasie und der Verarbeitung von Traumata dienen konnten und c) ihre Bildprogramme weitaus vielschichtiger zu lesen sind als bisher angenommen. Fast nebenbei stellt Guérin in Frage, ob so mancher Pyxidendeckel nicht eigentlich als Teil einer Spiegelkapsel angesprochen werden kann.

Mit Spiegelkapseln und deren Bildprogrammen befasst sich auch Manuela Studer-Karlen. Im Fokus steht ein zweiregistriges Exemplar aus der Galleria Nazionale dell’Umbria in Perugia: oben schachspielende Frauen, laut Autorin von minnenden Männern umworben; unten eine Jagdgesellschaft zu Pferde. Beide Szenen greifen gängige Minnemotive auf, ihre Kombination ist jedoch selten und lediglich ein weiteres Mal belegt; beide thematisieren die Annäherung – subtil inszeniert durch kleine Gesten und Details. Auffällig ist dabei die zentrale Rolle der Frauen: oben aktiv im Spiel, unten als tonangebende Figur. Studer-Karlen hält daher eine Auftraggeberin für möglich und zieht eine Verbindung zu einer Spiegelkapsel im British Museum. Dass solche Artefakte im Kontext eines emanzipierten weiblichen Selbstverständnisses und einer möglichen Neuverhandlung gesellschaftlicher Normen gelesen werden können, spricht dafür, dass sie nicht nur der sozialen Aufwertung dienten, sondern auch Ausdruck weiblicher Handlungsmacht waren.

Alexandra Gajewski rückt eine Darstellung aus dem Kontext der Minne in den Vordergrund, die sowohl auf Kästchen als auch auf Spiegelkapseln erscheint: die sogenannte Belagerung der Liebesburg. Im Zentrum ihrer Analyse steht die Frage nach dem Verhältnis von Dominanz und Sexualität zwischen den Geschlechtern. Auch für die Autorin bleibt dabei offen, ob dieses Motiv auf Elfenbeinobjekten der Unterhaltung der Aristokratie oder der moralischen Kontrolle der Besitzerinnen diente. Besonders hervorzuheben sind Gajewskis Überlegungen zu den ikonographischen Grundlagen des Bildthemas: Trotz seiner weiten Verbreitung lässt es sich keinem konkreten Ereignis oder spezifischen Text eindeutig zuordnen. Gerade deshalb geht sie über die gängigen Bezüge hinaus – neben dem Roman de la Rose, zu Ovid, Prudentius und den altfranzösischen Fabliaux – und diskutiert das Motiv breiter. Gajewski schlägt vor, die Belagerung der Liebesburg als visuelle Antwort auf die Schriftquellen der Entstehungszeit zu verstehen: als Inszenierung von Eroberung, die bewusst den Kontrast zu den zurückhaltenden Idealen der Minne sucht.

Dieser ausgezeichnet bebilderte und hervorragend redigierte Band leistet einen substantiellen Beitrag zur aktuellen Elfenbeinforschung und unterstreicht einmal mehr die essenzielle Bedeutung von Projekten wie dem Gothic Ivories Project des Courtauld Institute der University of London. Die Mehrheit der insgesamt 15 Beiträge nutzt das dort versammelte, grundlegend erschlossene Material, aktualisiert und quantifiziert es, und stellt die Artefakte in den Mittelpunkt aktueller Forschungsfragen. Umso hilfreicher und zukunftsweisender erscheint die Entscheidung für ausführliche Indices und die kostenfreie PDF-Verfügbarkeit des Bandes – ein konsequenter Schritt im Sinne kommender Initiativen und Projekte der Elfenbeinforschung.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Franziska Wenig, Rezension von/compte rendu de: Manuela Studer-Karlen (ed.), Gothic Ivories between Luxury and Crisis, Basel (Schwabe Verlag) 2024, 352 p., 5 b/w, 152 col. fig., ISBN 978-3-7965-5187-1, DOI 10.24894/978-3-7965-5188-8, CHF 64,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113184