Die Frage nach der historischen Entwicklung sogenannter »vernacular theology« in der europäischen Vormoderne wird in der internationalen Mediävistik immer wieder aufgegriffen, mal in unregelmäßigen Wellen, mal in langjähriger Forschung. Zu Ersterem gehören beispielsweise anglistische Studien zu John Wycliff, den sogenannten »Lollards«, und deren Beziehung zur lateinischen Gelehrtenkultur der spätmittelalterlichen Universitäten. Zu Letzterem hingegen zählt sicher die neueste Publikation des Münchner Psychotherapeuten, Adlerianers und Mystikforschers Karl Heinz Witte, den – laut eigener Angabe – seit seinem Studienabschluss 1962 das hier edierte sowie kommentierte Material »keine Ruhe gelassen« hat (XI). Auch der Titel des vorliegenden Bandes deutet ja auf die Vollendung einer Interpretationslinie hin, die Witte in seiner 1989 erschienenen Dissertation angedeutet hatte. Der Meister des Lehrgesprächs und sein »In-principio-Dialog« wird zu Johannes von Basel. Der Meister des Lehrgesprächs und liefert somit eine direkte Antwort auf eine Fragestellung, die der Verfasser seit Jahrzehnten verfolgt.

Das Argument der Studie lässt sich also einfach zusammenfassen: Die hier von Witte edierten mittelhochdeutschen scholastischen Texte sind einem gemeinsamen Verfasser zuzuordnen und dieser Verfasser heißt Johannes Hiltalingen von Basel (ca. 1333‑1392). Das Werk ist allerdings keine Monographie im Sinne eines interpretativen Buches; es handelt sich hier eigentlich um eine Edition mit Übersetzung und den Kommentar von vier Texten. Eine ausführliche Aufarbeitung seiner knackigen These bietet der Verfasser also nicht in ununterbrochener Argumentation, sondern begründet sie durch seinen Kommentar zu den jeweiligen mittelhochdeutschen Texten. Stil und Form der vier Texte weisen laut Witte auf eine gemeinsame Autorschaft hin, und inhaltlich seien Spuren einer Neigung zur augustinischen Theologie zu erkennen, vor allem durch das wiederkehrende Element einer Gnadenlehre, wie sie Augustinus im 5. Jahrhundert durch seine ca. fünfzehn anti-pelagianischen Schriften formuliert hatte. Stil, Form und Theologie sind also die Hauptkriterien für Wittes Identifikation des Autors als Johannes von Basel. Hier sind Spuren seiner germanistischen Lehrer Kurt Ruh und Georg Steer zu finden, die ähnlicherweise eine historisch gefärbte Art von »close reading« in ihren Behandlungen zur deutschsprachigen Mystik bei Meister Eckhart und seinem Milieu praktizierten.

Die klare These, die Witte auch in weiteren Publikationen der vergangenen Jahre ausgearbeitet hat, verliert allerdings etwas an Glanz, wenn man genauer hinschaut und die vorsichtigen Zusatzbestimmungen seiner Zuordnung bemerkt. Denn der Gebrauch des Begriffs »Autor« weicht hier vom Üblichen insofern ab, da nicht unbedingt von einer lebendigen Person, sondern von einer möglicherweise fiktiven Denkfigur die Rede ist: »der Name des Augustinermagisters [steht] in Wirklichkeit für ein ideelles Gebilde«, schreibt Witte. »Es handelt sich um einen Denkstil und um eine Anzahl theologischer Thesen, die zusammengehören und miteinander ein geistiges Profil bilden. Der Kern dieses Profils ist […] Johannes von Basel. Aber die Grenze seiner virtuellen Identität ist fließend« (6). Dass Witte seine Zuordnung nicht als wasserdichtes Gefäß, sondern als ein feinjustierbares Instrument konzipiert, zeigt eine lobenswerte analytische Transparenz, die für jede Auseinandersetzung mit den hier edierten Texten auch im Hinterkopf behalten werden sollte. Weitere Überprüfung seiner Zuordnung fördert Wittes Vorgehen hervorragend, vor allem mit seinem kontinuierlichen Bezug zum lateinischen Œuvre des Johannes von Basel, z. B. mit der Edition seiner Sentenzenvorlesungen, die Venício Marcolino, Monica Brînzei und Carolin Oser-Grote vorbereitet haben.

Nach einer 51-seitigen Einführung umfassen die restlichen ca. 950 Seiten die Editionen mit den dazugehörigen Übersetzungen und Kommentaren. Neben dem Traktat von der Minne, dem In-principio Dialog und dem Gratia-Dei-Traktat, ediert Witte den Audi-filia-Dialog, dem über 600 Seiten Edition, Übersetzung und Kommentar gewidmet werden. Die Editionen beginnen jeweils mit einer kurzen Darstellung der berücksichtigten Handschriften, die Hinweise auf bereits ausgearbeitete kodikologische Beschreibungen enthalten. Nicht immer sind einzelne Aussagen über die Handschriften überzeugend, wie etwa der Hinweis darauf, dass »das Format der Handschrift [München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 129] in der Größe eines Handtellers […] auf eine Anfertigung zum privaten Gebrauch hin[deutet]«, aber fachlich sind die Editionen wohl konzipiert, sinnvoll übersetzt und werden ohne Zweifel die Standardedition der jeweiligen Texte für einige Zeit bleiben. Typographisch sind kleine Kuriositäten ohne erkennbare Funktion vorhanden: In Klammern wird z. B. die Foliierung der jeweiligen Leithandschrift hervorgehoben, was bei kritischen Texteditionen inzwischen eher eine Ausnahme darstellt. Ebenso in Klammern angegeben sind die korrespondierenden Seitenzahlen in den Editionen von Wittes Lehrer Kurt Ruh. Diese Angaben wirken mehr wie Arbeitsnotizen bei der Erstellung der Edition, weisen implizit aber in dieser gedruckten Form auf einen Vergleichsbedarf hin – eine Arbeit, die eine Edition eigentlich selbst leisten sollte.

Insgesamt hätte man sich gewünscht, dass die teils sehr ausführlichen Kommentare zu den einzelnen Texten fließender miteinander verbunden wären, etwa in Form einer abgerundeten Monographie. Denn der rohe Stoff ist da, auch die Argumentation. Zusammen mit einem eigenen Editionsband hätte Witte somit ein breiteres Publikum erreichen können – eines, das bisher mit diesem Augustiner (oder der postulierten augustinischen Denkfigur) kaum in Berührung gekommen ist – so wie es die Übersetzungen für die Texteditionen so hervorragend tun. Gleichwohl bleibt auch in dieser Form festzuhalten: Witte hat mit dieser Publikation aus seiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Meister des Lehrgesprächs ein beeindruckendes und quellennahes Leitbild von einer offensichtlich unterschätzten theologischen Figur hervorgebracht. Der mediävistischen Forschung wird Wittes Arbeit für viele Jahre eine wertvolle Grundlage bieten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Aaron Vanides, Rezension von/compte rendu de: Karl Heinz Witte, Johannes von Basel: Der Meister des Lehrgesprächs. Eine augustinische Theologie der Beziehung Gottes zum Menschen in Auseinandersetzung mit Meister Eckhart, Stuttgart (Kohlhammer) 2023, XII–1005 S. (Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte, 8), ISBN 978-3-17-040044-3, EUR 79,00., in: Francia-Recensio 2025/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.113186