Das Thema »Sozialismus und Krieg« ist schon oft behandelt worden. Dabei stellen der Erste Weltkrieg und das Verhalten des Sozialismus/der Sozialdemokratie zu diesem den Dreh- und Angelpunkt dar. Denn dieser leitete bekanntlich den grundlegenden Bruch zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus ein, ausführlich erforscht in einer umfangreichen Historiographie.

Wie aber sieht es mit der Frage nach dem Verhältnis von Sozialismus und Pazifismus im Sinne einer pro-aktiven Friedenspolitik und ihrer historischen Entwicklung aus? Der Bedeutung des »Friedens für die Sozialisten« (9) war eine Tagung an der Universität Rouen im März 2019 gewidmet, deren Beiträge nun in dem vorliegenden Band dokumentiert sind. Da der Sprachgebrauch hier oft nicht präzise ist, gilt es zunächst festzuhalten, dass dabei unter »Sozialismus« die Geschichte der Bewegung von den Anfängen um die Mitte des 19. Jahrhunderts in dem Zweig betrachtet wird, der in die heutige Sozialdemokratie – nach mitteleuropäischem Sprachverständnis – mündete, was in Süd- und Westeuropa allerdings weiterhin als Sozialismus bezeichnet wird. Die kommunistische Bewegung ist damit allenfalls ein Widerpart, gegen den sozialistische Friedenspolitik angehen musste, wenn es auch zu gelegentlichen und schnell vorübergehenden Bündnissen kam.

Die Spannweite der Haltungen von Sozialisten zu der Frage, ob das Ideal des Friedens eine absolute Notwendigkeit für sie sei, macht die in Rouen lehrende Herausgeberin Elisa Marcobelli, Spezialistin für die Geschichte des europäischen Sozialismus vor 1914, anhand zweier Zitate deutlich. Während Jules Guesde für den marxistischen Flügel des französischen Vorkriegssozialismus die gewaltsamen, die Verhältnisse erschütternden Auswirkungen des Krieges als Ergebnis seiner blutigen Umstände betonte, bedeutete für Jean Jaurès jedes weitere gewonnene Jahr des Friedens in Europa zusätzliche Möglichkeiten einer regulären gesellschaftlichen Entwicklung.

Die beiden sich hier andeutenden Pole von »Revolution« und »Reform« als Antworten auf die Frage nach Krieg und Frieden bilden den Rahmen, innerhalb dessen die zehn Autorinnen und Autoren Aspekte der vielfältigen friedenspolitischen Einstellungen und Aktivitäten der Sozialisten diskutieren. Vorangestellt ist den Beiträgen nach der kurzen Einführung in die Thematik und einer Übersicht über die Gliederung des Bandes durch die Herausgeberin ein Vorwort des kanadischen Historikers Talbot Imlay, eines Spezialisten für die moderne Geschichte des – insbesondere sozialistisch ausgerichteten – Internationalismus. Die Verbindung von Krieg, Frieden und Internationalismus sei zu betrachten als Prozess, als Projekt, als Identitätsbestimmung und schließlich als eine aus all dem abgeleitete politische Praxis. Dabei gestaltete sich die konkrete Ausformung in den verschiedenen historischen, sich durch bestimmte politische Schlüsselereignisse definierenden Etappen natürlich immer unterschiedlich.

Dementsprechend sind die einzelnen Beiträge in vier Blöcke zusammengefasst: die Hochzeit des Sozialismus in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg im Rahmen der Zweiten Internationale, das große Schisma während des Ersten Weltkriegs, die Bemühungen um die Gestaltung einer Friedensordnung in den Nachkriegszeiten nach 1919 und 1945 sowie die Rolle der Sozialisten/Sozialdemokraten in der internationalen Politik im Kalten Krieg.

Im ersten Block werden das Verhältnis der Führung der Zweiten Internationale zum aufkommenden bürgerlichen Pazifismus dargestellt, das sich von prinzipieller (»klassenmäßiger«) Ablehnung zu einer praktischen Annäherung hin entwickelte, sowie die Reaktion der französischen Sozialisten auf das Attentat von Sarajewo. Der zweite Block untersucht das Schisma im Krieg anhand der Entwicklung der Positionen Antonio Gramscis sowie insbesondere der französischen Reaktionen auf die Antikriegskonferenzen in Zimmerwald und Kienthal. Hierin spiegelt sich insgesamt der Streit um »Reform oder Revolution«. Der dritte Block über die Gestaltung einer Friedensordnung behandelt die maßgeblich von einem Sozialisten, Albert Thomas, bestimmte institutionelle Einflussnahme auf die im Rahmen des Völkerbundssystems gegründete Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Friedensfrage in der Auseinandersetzung um das Münchener Abkommen von 1938 und schließlich die Bemühungen italienischer und französischer Sozialisten um eine Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht zuletzt auf eine europäische Vereinigung ausgerichtet sein sollte und nicht unwesentlich durch das italienische Widerstandsmanifest von Ventotene inspiriert war. Der abschließende vierte Block behandelt zwei ganz unterschiedlich zu gewichtende Fragen aus der Zeit des Kalten Kriegs: die Friedensfrage bei den französischen Sozialisten nach deren Wiederbelebung durch Mitterand in den Siebzigerjahren und schließlich die Haltung der Sozialistischen Internationalen zu den nationalen Befreiungsbewegungen oder auch antidiktorialen Bewegungen in den Ländern der Welt, die heute »Globaler Süden« genannt werden.

Die Aufzählung der einzelnen Beiträge mag auf den ersten Blick etwas disparat wirken, handelt es sich doch um Probleme von ganz unterschiedlichem Zuschnitt und Reichweite. Es handelt sich teils um Mikrostudien, teils um eine Art Längsschnitte. Einige Beiträge behandeln politische Positionen oder auch Akteure, andere widmen sich Auseinandersetzungen um bestimmte Ereignisse oder auch um institutionelles Wirken. Die Ordnung der Beiträge nach verschiedenen Epochen lässt allerdings die jeweiligen zeitbedingten Zusammenhänge erkennen und durch Vorwort wie Einleitung sind die Beiträge in das Thema des Bandes gut eingebunden. Ohnehin kann ein Sammelband selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, nicht einmal für eine einzelne Epoche.

Angesichts der Breite der angesprochenen Themen sei hier darauf verzichtet, Einzelkritik an den Beiträgen zu üben, was den Umfang einer Besprechung sprengen würde. Als Tendenz lässt der Band erkennen, wie sehr der Sozialismus – oder eben die Sozialdemokratie – in ihrer fast zweihundertjährigen Geschichte sich nach Aufgabe seines Anspruchs auf revolutionäre Umwälzung in den gesellschaftlichen Umständen eingerichtet hat, immer mit dem Anspruch auf eine reformerische Umgestaltung. Welche allgemeinen und konkreten Auswirkungen dies hatte, bliebe allerdings noch umfassend zu untersuchen. Doch das würde weit über die Möglichkeiten dieses Bandes hinausführen. Insgesamt liefert der Sammelband im Rahmen seiner Fragestellung eine Reihe wichtiger Hinweise, liefert so Anstöße zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema und gewährt insbesondere einen Einblick in die einschlägige französische Forschung.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Reiner Tosstorff, Rezension von/compte rendu de: Elisa Marcobelli (dir.), Socialisme et pacifisme. De la IIe Internationale à la guerre froide, Nancy (Arbre bleu) 2024, 185 p. (Gauches d’ici et d’ailleurs, 12), ISBN 979-10-90129-72-6, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.113995