Mit Sur les routes du poison nazi legt Anne Mathieu eine kleine Studie über die Berichterstattung französischer Reporterinnen und Reporter der politischen Linken vor, die zwischen dem »Anschluss« Österreichs (März 1938), dem Münchner Abkommen (September 1938) und der Zerschlagung der »Rest-Tschechei« (März 1939) aus Mitteleuropa berichteten. Es ist das neueste Werk der an der Universität Lorraine tätigen Journalismusforscherin, die sich seit Jahren mit linksrepublikanischer Presse in Frankreich, antifaschistischem Engagement von Reporterinnen und Reportern und der journalistischen Beobachtung internationaler Konflikte beschäftigt – insbesondere mit der Berichterstattung über den Spanischen Bürgerkrieg.
Im Zentrum des Buchs steht ein Korpus von Texten antifaschistischer Journalistinnen und Journalisten aus der französischen Linken, darunter Madeleine Jacob, Janine Bouissounouse, Marcel Bidoux und Joanny Berlioz, die in Periodika wie Vu, L’Œuvre, Le Populaire oder L’Humanité publizierten. Chronologisch verfolgt Mathieu ihre Einsätze in Wien, Prag, den Sudetengebieten, im Saarland und später in der Tschechoslowakei. Die Autorin hat Originalreportagen analysiert, häufig auch unter Einbeziehung der begleitenden Fotografie, und sie ergänzt dies durch Einordnungen zur journalistischen Praxis der 1930er-Jahre. Ihre Kommentierung und gelegentliche metajournalistische Reflexion machen deutlich: Hier schreibt eine Spezialistin für das Genre des Reportagejournalismus.
Besonders überzeugend gelingt es Mathieu, die atmosphärische Dichte der historischen Reportagen zu rekonstruieren, etwa im Fall von Madeleine Jacobs eindringlichen Schilderungen aus dem »roten Wien« nach dem Februaraufstand 1934 oder bei ihrer Beobachtung des nationalsozialistischen Triumphs in der Saarregion 1935. Die Kontrastierungen von Gesten der Resignation, heroischem Widerstand und aufkommender Massenbegeisterung sind überzeugend dokumentiert. Auch die methodische Stärke der Autorin – etwa in der detaillierten prosopografischen Erschließung ihres journalistischen Korpus – verdient Anerkennung.
Und dennoch bleibt die Studie analytisch wie methodisch deutlich hinter den heutigen Möglichkeiten zurück. Das liegt vor allem an drei zentralen Defiziten, die angesichts der behandelten Thematik – Nationalsozialismus und Journalismus – besonders schwer wiegen.
Erstens beschränkt sich die Autorin vollständig auf das Spektrum der französischen Linkspresse – ohne diesen Zugriff systematisch zu begründen oder zu kontextualisieren. Zwar betont sie in der Einleitung die Forschungsdesiderate hinsichtlich der Wahrnehmung des Nationalsozialismus durch die europäische Linke, doch bleibt unklar, was eine solche auf die französische Presse beschränkte Perspektive für den Erkenntnisgewinn über den Nationalsozialismus oder den – internationalen – Journalismus der damaligen Zeit leistet. Andere bedeutende Strömungen des französischen Journalismus – konservative, katholische, liberale, monarchistische, antikommunistische sowie spätere kollaborationistische Stimmen – fehlen völlig. Damit bleibt der journalistische Resonanzraum dieser Zeit in seiner tatsächlichen Pluralität ausgeblendet.
Zweitens und schwerer wiegend: Das Werk verzichtet vollständig auf eine vergleichende oder internationale Perspektive. Weder Großbritannien noch die USA – die beiden global führenden Presseländer der Zeit – werden auch nur erwähnt, geschweige denn analysiert. Auch wichtige Presseakteure in der Schweiz, in Skandinavien oder in den neutralen Gebieten Mitteleuropas (z. B. Prag, Wien, Luxemburg) bleiben unbeachtet. Der journalistische Blick auf das NS-Regime war jedoch gerade in den Jahren 1933 bis 1939 zutiefst transnational geprägt. Die Konzentration auf die französische Linke verengt nicht nur den Fokus, sie verzerrt auch das Gesamtbild.
Damit verbunden ist ein drittes Problem: die konsequente Ignoranz gegenüber aktueller internationaler Forschungsliteratur. Die fast vollständige Abwesenheit einschlägiger englisch- und deutschsprachiger Titel – obgleich inzwischen eine Vielzahl substanzieller Studien zu Auslandsjournalismus und Auslandskorrespondenten, Pressefreiheit und diktatorialer Zensur sowie zu medialer Mobilisierung und globaler NS-Propaganda vorliegt – lässt das Werk in seinem Frankozentrismus aus der Zeit gefallen erscheinen.
Sur les routes du poison nazi ist ein Buch, das durch seinen quellennahen Zugriff, einige detailreiche Beobachtungen und durch seine politische Aufwertung journalistischer Akteure einen Beitrag zur – französischen – Mediengeschichte der 1930er-Jahre leistet. Durch seine französische Binnenperspektive und seine begrenzten Quellen aus der Linkspublizistik ist es jedoch viel zu eng, um den transnationalen Charakter des journalistischen Umgangs mit dem Nationalsozialismus in seiner Komplexität zu erfassen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Norman Domeier, Rezension von/compte rendu de: Anne Mathieu, Sur les routes du poison nazi. Reporters et reportrices de l’Anschluss à Munich, Paris (Éditions Syllepse) 2024, 220 p., ISBN 979-10-399-0229-8, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2025/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.113996





