Die Beobachtung, dass Staatsverschuldung ein Thema von enormer gesellschaftlicher Sprengkraft ist, kann man in Frankreich gegenwärtig besonders eindrücklich machen, sie ist aber nicht erst im 21. Jahrhundert von Bedeutung. Vielmehr weist diese Erkenntnis weit in die Vergangenheit zurück. Die Abhängigkeit staatlicher Macht von ihrer Kreditwürdigkeit durchzieht als Erfahrung die gesamte Moderne und beschäftigte auch schon vormoderne Herrscher. Die Geschichte der Staatsverschuldung lässt sich in unterschiedlicher Weise schreiben – als Geschichte militärischer Konflikte, als Geschichte ökonomischer Prozesse, als Geschichte politischer Aushandlungen oder als Geschichte sozialer Ordnungen. Die Studie von Laure Quennouëlle-Corre versucht eine Verbindung verschiedener Narrative, im Zentrum aber steht die Geschichte der Staatsschuld als Gegenstand gesellschaftlicher Zuschreibung und vor allem: öffentlicher Meinung. Die Autorin geht davon aus, dass sich in Frankreich eine »situation particulière« (10) zeige, die in der Nicht-Wahrnehmung, also in der Ausblendung zunehmender Schuldenlasten bestehe.
Somit geht das Buch von nationalen »traits culturels« (332) in der (Un-)Sichtbarkeit von Staatsverschuldung aus, womit es an jüngere Forschungen zu sozialen und moralischen Dimensionen der Ökonomie anschließt.1 Zugleich ergreift es Position in normativ geführten Debatten, hält die Autorin öffentliches Schuldenmachen doch für ein fundamentales Problem, nicht für eine sinnvolle Form der Zukunftsinvestition. Die Studie verweist daher auf Blindstellen der französischen Geschichtsschreibung, die zwar die diversen ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts (1923/24, 1929, 1957/58 und 1973/74) in den Blick genommen, diese aber nicht ausreichend mit der Entwicklung von Haushaltsdefiziten und öffentlicher Verschuldung verbunden habe. Hier übertrug sich, so die These, ein nicht rational erklärbares, sondern emotional begründetes Desinteresse der Französinnen und Franzosen auf die historiografische Zunft.
Die Analyse beginnt mit dem »goldenen Zeitalter« des Rentierkapitalismus im 19. Jahrhundert, darauf folgen Abschnitte zur Kriegsfinanzierung zwischen 1914 und 1918, zur Dreifachkrise von 1922 bis 1926 und zu den 1930er-Jahren. Die Hochkonjunktur der Staatsverschuldung lässt Quennouëlle-Corre mit dem Zweiten Weltkrieg und der Erfindung der bons du Trésor beginnen, die nach 1945 in die Legitimierung der Staatsschuld in der französischen Planungspolitik einmündete. Das Jahrzehnt zwischen 1959 und 1973 wird dagegen als »décennie vertueuse« (186) gelesen, in dem erstmals eine wirkliche Auseinandersetzung mit den dramatischen Budgetproblemen des französischen Staates und eine gewisse Rückkehr zu orthodoxen Formen der Finanzpolitik stattfanden. Was gleichwohl blieb, so die Beobachtung, war ein grundlegendes Unverständnis der französischen Bevölkerung für fiskalische Fragen sowie ein sozialer Konsens im Hinblick auf die Rolle des Staates, der den Anstieg öffentlicher Ausgaben nicht abbremste, sondern weiterhin beförderte.
Diese Konstellation trug dazu bei, dass Frankreich in der krisenhaften Konfiguration, die in den 1970er-Jahren durch Stagflation und Arbeitslosigkeit entstand, offenbar besonders zögerlich reagierte und im internationalen Vergleich ins Hintertreffen geriet. Während in der Bundesrepublik Deutschland die ansteigende Staatsverschuldung administrative Gegenmaßnahmen sowie die Entstehung eines breiten Problembewusstseins befördert habe, das sich auf die europäische Ebene übertrug, sei Frankreich von dieser neoliberalen Wende zwar berührt, aber nicht grundlegend verändert worden, so das Argument. Die Einführung marktbasierter Verschuldungstechniken sowie die »dématéralisation« (258) durch Digitalisierung und Institutionalisierung hätten es schließlich für die breite Bevölkerung immer schwieriger gemacht, die wachsende Belastung überhaupt zu begreifen. Betreten worden sei so »le chemin de l’oubli« (264).
Diese Argumentation stützt sich, wo die Frage der öffentlichen Wahrnehmung berührt ist, vor allem auf die Auswertung von Presseberichterstattung sowie der Ergebnisse zeitgenössischer Meinungsforschung, die methodisch leider kaum reflektiert werden. Angesichts der langen Tradition einer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung der französischen Zeitgeschichte und Soziologie mit der Funktionalität und Fiktionalität entsprechender Erhebungen überrascht dies, hatte Pierre Bourdieu doch bereits in den frühen 1970er-Jahren konstatiert: »l’opinion publique n’existe pas«. Eine genauere Betrachtung der diversen, nicht nur nationalen, sondern auch internationalen Interessen, die hinter entsprechenden Befragungen lagen, der medienhistorischen Bedingungen sowie der sich wandelnden Modi des politischen Sprechens (und Schweigens) in Frankreich unterbleibt in der vorliegenden Studie. Insgesamt ist die Quellenbasis recht knapp gehalten und wird in den Text nur kursorisch, nicht systematisch oder in vertiefenden Einzelanalysen integriert. So wird die Historizität des jeweils Gesagten durch die normative Zuspitzung auf die Position der Verfasserin tendenziell überblendet.
Zudem lebt die Darstellung stark von der Sozialfigur des »homme de la rue« (264) bzw. »épargnant-citoyen« (259), der ahnungslos oder kurzsichtig auf die Rettung durch den Staat warte. Intermediäre Akteure, etwa Banken, Versicherungen, Gewerkschaften, Rating-Agenturen, Experten oder Anlageberatungen werden zwar erwähnt, erhalten als Interessenten innerhalb des politischen Raums aber kein Gesicht und keine Namen. Um die Frage der wachsenden Staatsverschuldung wie auch ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu verstehen, liegt aber – zumal angesichts der immer komplexeren Finanzmarktstrukturen – hier ein ganz wesentliches Untersuchungsfeld. Nimmt man dieses ernst, wird es weniger plausibel, von einer besonderen Kultur der Leugnung in Frankreich zu sprechen, die allein aus dem Unwissen der dortigen Bevölkerung oder der Ignoranz ihrer Regierungen resultiert. Eher wäre danach zu fragen, auf welchen Wegen es gelang, entsprechende Interessen in nationale Deutungs- und Handlungsräume so einzubetten, dass die eigentlichen Profiteure der globalen Staatsverschuldung, die am Ende eher unter den zehn Prozent als unter den neunzig Prozent zu suchen sind,2 ihre Gewinne sichern konnten.
In der französischen Diskussion, die tendenziell staats- und schuldenaffin verläuft, ist die Studie von Quennouëlle-Corre dennoch ein wichtiger Versuch, die sozialen, kulturellen und politischen Bedingtheiten der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert besser zu verstehen. Dass nicht ökonomische Dogmen oder »die da oben«, sondern kontingente, oft unberechenbare Konstellationen in Gesellschaften darüber entscheiden, wie der Staat sein Geld einnimmt und ausgibt, ist keine völlig neue Erkenntnis. Dass die Wahrnehmung und Vermittlung entsprechender Probleme, also die soziale Imagination von Schuld(en), in diese Geschichte integriert werden muss, kann als wesentlicher Impuls dieses Buches gleichwohl positiv hervorgehoben werden. Im nächsten Schritt erschiene es sinnvoll, internationale Vergleichsperspektiven genauer zu verfolgen und so den Container der nationalen Erzählung zu hinterfragen. Dies würde nicht nur das Verständnis vergangener Krisen, sondern auch die Intervention im Heute erleichtern, welche die Verfasserin abschließend noch einmal fordert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stefanie Middendorf, Rezension von/compte rendu de: Laure Quennouëlle-Corre, Le déni de la dette. Une histoire française, Paris (Flammarion) 2024, 368 p., ISBN 978-2-08-044564-3, EUR 21,00., in: Francia-Recensio 2025/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114003





