Seit fast vierzig Jahren erlebt die Rezeption der Werke Alexander von Humboldts eine erstaunliche Renaissance, die sich u. a. an der Neuauflage bzw. Neuübersetzung fast aller wichtigen Publikationen des großen Naturforschers ablesen lässt. Zitiert sei stellvertretend für viele bahnbrechende Unternehmen z. B. die zweibändige Ausgabe des Humboldt’schen Reiseberichts (1991), die monumentale Edition des Kosmos (2004) oder die unter der Federführung von Oliver Lubrich in Bern erstellte 10-bändige Ausgabe aller verstreut publizierten Aufsätze, Artikel und Essays Humboldts (2019).1 Damit geht ein überaus reges Interesse der Forschung einher, von dem auch der hier anzuzeigende Sammelband zeugt, der unter dem Titel Alexander von Humboldt. Die ganze Welt, der ganze Mensch die Ergebnisse einer Tagung präsentiert, die im Jahr 2019 zum 250. Geburtstag des Naturforschers an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde.
Der Titel des von Ottmar Ette, Barbara Göbel und Tobias Kraft herausgegebenen Bandes weist sowohl auf seine Stärken als auch auf seine Schwächen hin. Versucht man, dem überaus reichhaltigen und vielseitigen Werk Alexander von Humboldts gerecht zu werden, so wird man Forscherinnen und Forscher aus den verschiedenen Disziplinen und aus den zahlreichen Ländern, in denen Alexander von Humboldt gearbeitet und geforscht hat, zu Wort kommen lassen wollen. Von dieser Vielseitigkeit zeugt auch die Mehrsprachigkeit des Bandes (neben neun deutschen gibt es je drei spanische und englische Beiträge). Erkauft wird dieses breite Panorama allerdings durch eine schwer zu vermeidende Zersplitterung der Beschäftigung mit dem Leben und dem Werk Humboldts, der durch den Hinweis auf das bei Humboldt anvisierte »Weltganze« und auf seine Idee eines »ganzen Menschen« zusammengehalten werden soll. Dass die unterschiedlichen Natur- und Kulturphänomene nicht isoliert zu betrachten sind, ist freilich eine der zentralen Gedanken Alexander von Humboldts, die in der berühmten Formel »Alles ist Wechselwirkung« (die auf S. 20 dieses Bandes zitiert und kurz danach von Ottmar Ette auch als »Zusammenleben allen Wissens und aller Wissenschaften« (21) umschrieben wird) ihren Niederschlag findet. Und so wäre es wohl unbillig, den fehlenden Fokus zu beklagen und sich darüber zu beschweren, dass auf Beiträge, die sich mit der überaus interessanten Genese von Humboldts biogeographischen Überlegungen beschäftigen,2 solche folgen, in denen es um die Bergwerke Mittel- und Südamerikas geht, um Humboldts sprachwissenschaftliche Konzeptionen oder um seine einflussreiche Beschäftigung mit der Sklaverei (vgl. hier die Beiträge von Paulo Soethe, 217–249, insbes. 230–236und Michael Zeuske, 253–286). Es fehlt in dem Band nicht an spannenden Beobachtungen und Analysen, so (um hier aus Platzgründen nur ein Beispiel zu nennen) wenn auf die Bedeutung von Alexander von Humboldts Italienaufenthalt hingewiesen wird, der es ihm im Jahr 1805 erlaubte, im Vergleich mit den römischen Bauwerken die außerordentliche Qualität der präkolumbischen Werke herauszustellen (Beitrag von Cettina Rapisarda, 151–201). Ob Humboldt dabei die besondere Stellung der griechisch-römischen Antike relativiert, müsste wohl noch eingehender untersucht werden.
Gleichwohl ist die Spannbreite in diesem Band schon erheblich, und so heterogen wie die behandelten Themen ist auch die Ausrichtung und das Zielpublikum der hier versammelten Arbeiten. Neben recht spezialisierten, wissenschaftlich anspruchsvollen Beiträgen finden wir auch Texte, in denen ein besonderes Humboldt-Forschungsprojekt dargestellt wird, aber auch synthetisierende Vorträge, die eher ein allgemeines Humboldt-Bild propagieren und denen es in einer manchmal apologetischen Diktion darum geht, die Aktualität der Methoden und der Schriften Alexander von Humboldts herauszuarbeiten. »Von ihm«, so lesen wir zum Beispiel, »geht eine direkte Entwicklung aus bis zu dem, was wir heute tun: die Wissenschaft vom System Erde« (16). Humboldt, so steht es in einem anderen Beitrag, ist ein »Ökologe, Humanist und Autor, der viele Herausforderungen und Aufgaben formulierte, die heute unsere Umweltdiskussionen bestimmen« (36). Auch wenn es wohl richtig ist, Wissenschaft nicht als blutleeres Unternehmen ohne gesellschaftlichen Bezug zu betreiben und die „Aktualität“ eines Werkes immer zugleich seine Legitimität erhöht, ist die Konstruktion von Identifikationsfiguren, Vorläufern und Helden, denen Denkmäler errichtet werden, vor denen man sich pflichtbewusst verneigt, eine nicht ganz unproblematische Tendenz, die einerseits die solcherart Geehrten wie Figuren der Jetztzeit behandelt, sie dadurch andererseits aber der Wandelbarkeit der ideologischen Konjunkturen aussetzt. Dabei war Humboldt durchaus ein Kind seiner Zeit. Es ist richtig, dass bei ihm ein frühes ökologisches Bewusstsein präsent ist, z. B. in seinem Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle-Espagne, in dem er u. a. die gigantischen Unternehmungen der spanischen Kolonialmacht nachzeichnet, um das Tal von Mexiko zu entwässern, die zu einer nachhaltigen Zerstörung des gesamten Gleichgewichts des fragilen Ökosystems geführt haben. Auf der anderen Seite ist Humboldt aber auch ein Verfechter einer neuen und in dieser Zeit modernen Form der Landwirtschaft, deren Erträge gesteigert werden sollen, so wie er ganz allgemein im Sinne der Aufklärungszeit konkrete Vorschläge macht, um eine bessere, d. h. effektivere Nutzung der Naturressourcen zu gewährleisten. Der ihn hier leitende technische und ökonomische Optimismus, der angesichts des Weltzustands rund um 1800 verständlich ist, erschiene uns heute vielleicht nicht mehr ganz so zeitgemäß. Humboldt gehörte eben zu der Gruppe von Menschen, die sich dafür einsetzte, in allen Bereichen, insbesondere aber in der Landwirtschaft, die Produktivität zu erhöhen, was u. a. auch der Vermeidung von Hungersnöten dienen sollte.
Bei einem so vielfältigen Œuvre wie dem Alexander von Humboldts können in einem Sammelband natürlich nicht alle Aspekte behandelt werden, und wahrscheinlich erscheint es deshalb paradox, angesichts der vielen Themen, die in dem Band behandelt werden, erst eine gewisse Heterogenität und Zersplitterung zu monieren, um dann doch noch ein Thema zu erwähnen, das unbedingt hätte berücksichtigt werden müssen. Nach Auffassung des Rezensenten wurden nämlich Humboldts Frankreichbezüge stiefmütterlich behandelt. Immerhin hat Humboldt fast ein Drittel seines Lebens in Paris gelebt und einen Großteil seiner wissenschaftlichen Werke auf Französisch verfasst. Er war in der französischen Hauptstadt, einem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftsgeschichtlich zentralen Ort, vielfältig vernetzt, nicht zuletzt auch durch seine langjährige Position als einer der damals auf die Zahl von acht beschränkten associés étrangers der Pariser Académie des Sciences – eine Position, die ihm sehr viel bedeutete. Sowohl im rein wissenschaftlichen als auch im weiteren kulturellen Feld entstanden Humboldts Werke im engen Dialog mit den französischen Gelehrten und mit den französischsprachigen Publikationen seiner Zeit. Deshalb ist es schade, dass der für Humboldt nicht zu überschätzenden Bedeutung der in Paris diskutierten Gedanken, Themen und Thesen in dem Sammelband kaum Rechnung getragen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christian Helmreich, Rezension von/compte rendu de: Ottmar Ette, Barbara Göbel, Tobias Kraft (Hg.), Alexander von Humboldt. Die ganze Welt, der ganze Mensch, Hildesheim, Zürich, New York (Georg Olms) 2024, 408 S. (Potsdamer inter- und transkulturelle Texte [Pointe], 23), ISBN 978-3-487-16708-4, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114142





