Diese Monografie hat zum Ziel, die Entstehung und frühe Geschichte des Modernisierungsnarrativs nachzuzeichnen, das in der Reformation eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Moderne sieht. Diesem Meisternarrativ zufolge habe die Reformation die Denkfreiheit begründet. Obwohl Historiker*innen diesen Mythos oft kritisiert haben, haben sie bislang keine umfassende Analyse seiner Erfindung und Etablierung geschrieben – eine Lücke, die Michael O’Neil Printy nun füllen möchte.
The Enlightenment’s Reformation ist weniger ein Thesenbuch, das sich von bestehenden Forschungsthesen und -trends abgrenzt, außer vielleicht wenn es anglozentrische Erzählungen in der englischsprachigen Forschung kritisiert und stattdessen die Bedeutung der deutschen Ideengeschichte für die englischsprachige Kultur betont (10; Epilog). Seine Stärke liegt in der akribischen Rekonstruktion der Argumente und Wirkungsabsichten von Intellektuellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Es geht dagegen nur begrenzt um Medien für ein breites Publikum – obwohl ein etwas textlastiger Almanach untersucht wird – und gar nicht um Bildanalyse. Methodologisch folgt die Studie der Cambridge School of history of ideas, in deren Reihe sie auch veröffentlicht ist.
Im Zentrum der Erzählung stehen bekannte Gestalten des deutschen intellektuellen Lebens wie Johann Joachim Spalding, Johann Salomo Semler, Karl Leonhard Reinhold, Johann Gottlieb Fichte oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel, aber auch weniger berühmte Autoren wie Johann Georg Walch oder Charles Villers. Der Autorenkreis besteht aus protestantischen und männlichen Gelehrten, vor allem Universitätsprofessoren in Theologie, Philosophie und Geschichte. Printy liefert für jeden Fall eine gelungene und präzise Kontextualisierung und Zusammenfassung der besprochenen Schriften.
Dem Autor zufolge sei das Narrativ über die Reformation als Ursprung der Denkfreiheit in zwei Etappen aufgekommen, die er in den beiden Teilen seiner Monografie untersucht. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spürten Aufklärungstheologen das Bedürfnis, sich vom Heterodoxieverdacht zu befreien und vom Deismus zu distanzieren. Sie präsentierten deshalb ihre Lehren und Methoden als eine Fortsetzung der lutherischen Reformation des 16. Jahrhunderts. Sie stellten also die Reformationsgeschichte in den Dienst ihres religiösen Reformprogramms (Teil 1). Um 1800 eigneten sich dann auch Philosophen die Vorstellung an, die eigene Lehre sei eine Vervollständigung von Luthers Werk. Sie stellten also ihrerseits die Religion in den Dienst der Philosophie und beanspruchten nun, eine umfassende Begründung für die Moral zu liefern (Teil 2).
Der erste Teil geht auf die protestantische Apologetik im Zeitalter der Aufklärung und ihre Benutzung der Philosophie ein. Kapitel 1 analysiert Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen und Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768). Printy betont, dass Spalding unter dem Einfluss von Shaftesbury der Vermengung von Theologie und Philosophie den Weg geebnet habe. Somit konnten Christentum und Philosophie als Phänomene verstanden werden, die sich gegenseitig stützten. Im darauffolgenden Kapitel zeigt der Autor, dass Kirchenhistoriker wie Johann Lorenz von Mosheim und Johann Georg Walch in diesem Sinne anfingen, Luthers Verdienste für die Philosophie herauszustellen. Dies führt ihn im Kapitel 3 zu einer Analyse von der Art und Weise, wie Johann Salomo Semler seine rationalistische Theologie (»Neologie«) als Produkt der Reformation darstellte. Dieser behauptete nämlich, der Geist der Reformation sei die Denkfreiheit, sodass über jedes Dogma vor dem Tribunal der Vernunft geurteilt werden solle. Zugleich wird klar, dass Semler sich diese Freiheit nur in einem gelehrten Rahmen vorstellte und somit durchaus das Woellner’sche Religionsedikt gutheißen konnte.
Im zweiten Teil der Studie legt Printy zunächst dar, wie Karl Leonhard Reinhold die Kant’sche Philosophie als Fortsetzung der Reformation verstand (Kapitel 4) und sich Fichte davon inspirieren ließ. Reinhold zufolge habe Jesus eine Einheit von Religion und Moral hergestellt, die in den folgenden Jahrhunderten zuerst verlorengegangen, dann teilweise von Luther, aber gänzlich erst durch Kants kritische Philosophie wiederhergestellt worden sei. Reinhold griff auf die Reformation zurück, um eine Art philosophische Religion zu legitimieren. Kapitel 5 fokussiert dann auf den Lothringer Charles Villers, der sich die Göttinger Theorien vom geistigen Fortschritt durch die Reformation aneignete und auch auf Französisch verbreitete. Das darauffolgende Kapitel 6 analysiert zunächst einen 1817 veröffentlichten Almanach, der eine Reihe von Essays zum Fortschritt durch die Reformation enthält, bevor es Hegels Vorstellung von der deutschen Nation als Vorreiterin der geistigen Freiheit untersucht.
Die Untersuchung wird durch einen Epilog abgerundet, der zunächst die Wirkung der hier untersuchten Debatten über den historischen Platz der Reformation außerhalb Deutschlands, vor allem in der englischsprachigen Welt, betont. Daraufhin zeigt Printy, wie im 20. Jahrhundert in Deutschland der Erinnerungsort Aufklärung die Reformation als das Gründungsmoment der Moderne weitgehend verdrängte. Somit erfüllt diese gut lesbare und erkenntnisreiche Monografie auf vorbildliche Weise ihr Ziel, eine Analyse des Entstehungskontexts und der Etablierung des Modernisierungsnarrativs zu liefern.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Damien Tricoire, Rezension von/compte rendu de: Michael Printy, Enlightenment’s Reformation. Religion and Philosophy in Germany, 1750–1830, Cambridge (Cambridge University Press) 2024, 284 p. (Ideas in Context, 152), ISBN 978-1-009-49406-9, DOI 10.1017/9781009494038, EUR 99,20., in: Francia-Recensio 2025/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114148





