Mit der 10. wissenschaftlichen Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte wurden »kleine Reichsstädte« erstmals systematisch in den Blick genommen. Diese stellen in der Tat ein Forschungsdesiderat dar, da sie bislang weder von der Reichs- noch von der Kleinstadtforschung umfassend berücksichtigt wurden. Erklärtes Ziel der Organisatoren Olivier Richard und Gabriel Zeilinger war es demnach, durch die Bündelung vielfältiger Ansätze und anhand verschiedener Fallbeispiele einen Anstoß dafür zu geben, den kleineren Reichsstädten in der Stadtgeschichtsforschung künftig mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen (14). Der vorliegende Tagungsband, vom Michael Imhof Verlag in sehr guter Qualität, reich bebildert und mit Register gedruckt, soll diese Impulse liefern.
Der Band demonstriert die Vielzahl an Blickwinkeln, unter denen kleinere Reichsstädte untersucht werden können, ohne auf die in der älteren Forschung üblichen Opfer- und Verlustnarrative oder die idealisierten Darstellungen kleiner, aber freier Stadtstaaten zurückgreifen zu müssen. So zeigen Michael Rothmann (17–44) und Thomas Lau (45–70) exemplarisch die Handlungsspielräume der Städte Weinsberg und Buchau gegenüber den sie umgebenden Herrschaftsträgern auf. Heidrun Ochs untersucht anhand der Städte Boppard und Oberwesel, welche Möglichkeiten deren Räte zur Ausübung einer Wirtschaftspolitik hatten (125–160). Die Schriftlichkeit kleinerer Städte wird mit gleich drei Beiträgen näher beleuchtet. Silvan Freddi verbindet den Ausbau der Solothurner Kanzlei im 15. Jahrhundert mit der anhaltenden Expansion des städtischen Territoriums (217), die mindestens ebenso entscheidend gewesen sei wie die persönliche Initiative des Stadtschreibers Hans vom Stall. Zu einem anderen Ergebnis kommt Hanna Nüllen in ihrer Betrachtung der Schriftlichkeit in den Reichsstädten Gelnhausen und Friedberg, wo trotz der »eher als Niedergang zu wertenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen […] die Anlage und der Ausdifferenzierungsgrad städtischen Schriftguts in Buchform ab der Mitte des 14. Jahrhunderts« zunahm (263). Sowohl Nüllen als auch Freddi gehen davon aus, dass sich das Kanzleipersonal an den umliegenden, größeren Kommunen orientierte und ein Wissenstransfer stattfand. Dominique Adrien hingegen erkennt im Auftauchen von »Verfassungsurkunden« kleinerer südwestdeutscher Reichsstädte im 14. Jahrhundert keine bloßen Nachahmungen von politischen Ordnungen aus Augsburg oder Ulm, sondern jeweils eigenständige Lösungen für spezifische lokale Problemstellungen. Auch in einer Kleinstadt wie Pfullendorf habe es »die gedankliche Reife zu einer solchen politischen Konzeption und die technische Kompetenz für deren Verschriftlichung« gegeben (260).
Die Breite der Beiträge überzeugt, allerdings fehlt ein Beitrag mit dezidiert kommunikationsgeschichtlichem Zugang, obwohl sowohl in der Einführung als auch der Zusammenfassung betont wird, welchen Aufschluss die reichsstädtische Stellung in einem Kommunikationsnetzwerk über ihre jeweilige Reichweite und Bedeutung liefern kann.
Aus der thematischen Setzung des Bandes ergibt sich vornehmlich ein methodisches Problem, nämlich die durchaus zentrale Frage: Was genau ist eine kleine Reichsstadt? In ihrer Einleitung schlagen Richard und Zeilinger vor, von Reichsstädten »zweiter Reihe« zu sprechen, da sie oft nur sekundär in Kommunikationsnetze und die Strukturen des Reichs eingebunden waren (11). Gabriele Annas, die die Hof- und Reichstage des späten Mittelalters auf Spuren kleiner Städte untersuchte, bestätigt dies: Die kleineren Reichstädte seien in doppelter Hinsicht nachgeordnet, sowohl den Großen des Reichs als auch den großen Freien und Reichsstädten, die häufig eine Vorortfunktion einnahmen (345). Wie unklar diese Kategorie jedoch ist, zeigen die Beiträge selbst: Die Bestimmung, ob der Untersuchungsgegenstand überhaupt eine »kleine« Reichsstadt ist und ob damit Rückständigkeit (in wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht) gegenüber den »Großen« ausgedrückt wird, ist nicht immer eindeutig. Einige der Beiträge orientieren sich an den klassischen, stadttypologischen Kriterien Einwohnerzahl (Michael Rothmann, Hanna Nüllen, Silvan Freddi) und überbautes Areal (Heidrun Ochs). Annas sortiert die Städte anhand der Reichsmatrikel zumindest relativ ihrer Wirtschaftskraft nach Größe (355). Diese Matrikel, ebenso wie die im Schwäbischen Bund zu leistenden Abgaben, nimmt auch Adrien als Anhaltspunkt, der zudem Zentralitätskriterien nach dem von Escher und Hirschmann vorgelegten Modell benennt.1 Ganz grundsätzlich hinterfragt Thomas Lau die Kategorie »kleine Reichstadt«, da diese voraussetze, auf geschlossene und daher »vermessbare Entitäten« zu blicken – eine Grundvoraussetzung, die »[…] weder für Buchau noch für andere Reichsstädte zu[traf]« (68). Laus Untersuchung der Buchauer Unruhen im Jahre 1748 zeigt, dass die schwache Position der Ratsfamilien (d. h. fehlende Zentralität) dadurch abgefangen wurde, dass die eigentlichen Entscheidungen der städtischen Politik und Autoritätszuweisungen für den Rat aus der benachbarten, etwas größeren Reichsstadt Biberach vorgenommen wurden. Der Blick der Forschung müsse also weg von scheinbar abgeschlossenen Einheiten und dominierenden Zentren hin zu den sie umgebenden, dynamischen Netzwerken gelenkt werden. Die Frage, »was eine kleine Reichsstadt war und ausmachte« (12) und ob eine solche Kategorisierung zielführend ist, bleibt also weiterhin offen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn diese Frage in allen Beiträgen mit Blick auf den jeweils eigenen Untersuchungsgegenstand etwas stärker reflektiert worden wäre.
Dennoch erfüllt der lesenswerte Band die an ihn zu stellenden Ansprüche: Zunächst versammelt er eine ganze Reihe von Fallbeispielen, in denen vormals oft unbeachtete, kleinere und mittelgroße Reichsstädte (und deren Überlieferung) in den Fokus rücken. Hier sei besonders Gerhard Fouquets Beitrag zu den »Unbekannten im spätmittelalterlichen Reich« – den Reichsdörfern – erwähnt (71–124), der einen wichtigen ersten Schritt zur Schließung dieser Forschungslücke darstellt. Darüber hinaus liefert der Band wichtige Denkanstöße: Er zeigt, dass die Ausweitung der Perspektive über die Epochengrenze hinweg insbesondere mit Blick auf die Stadtgeschichte einen Mehrwert liefert. Und er zeigt vor allem, dass die Geschichte der Reichsstädte (und des Reichs) nicht stets aus der Sicht der Großen untersucht und erzählt werden muss, sondern dass auch kleinere Kommunen Funktionen im Reich erfüllten und umgekehrt das Reich bzw. der Reichsstadtstatus auch für diese. Die vielfältigen Beiträge verdeutlichen zudem, dass diese »Kleinen« teilweise beachtliche Quellenbestände aufweisen, deren Erforschung weiterhin aussteht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Weil, Rezension von/compte rendu de: Olivier Richard, Helge Wittmann, Gabriel Zeilinger (Hg.), Kleine Reichsstädte, hg. vom Mühlhäuser Arbeitskreis für Reichsgeschichte, Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2024, 447 S., 92 farb. u. 15 s/w Abb. (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 11), ISBN 978-3-7319-1255-2, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2025/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114149





