Im Mittelpunkt der beeindruckenden Studie von Daniel Ristau steht die komplexe Verflechtung jüdischer Familiengeschichte mit der Herausbildung bürgerlicher Kultur im 19. Jahrhundert: Am Beispiel der weit verzweigten Familie Bondi, deren Mitglieder in Dresden, Mainz und Hamburg lebten, fragt er, wie sich Zugehörigkeit und Identität zwischen religiöser Tradition und gesellschaftlicher Integration über einen Zeitraum von knapp hundert Jahren entwickelten. Dabei versteht Ristau die Kategorie »das Jüdische« nicht als starre, abstrakte Dimension, sondern als ein gelebtes Beziehungsgeschehen, das sich in sozialen Praktiken und alltäglichen Aushandlungen vollzieht. Seine Studie bewegt sich hierbei bewusst interdisziplinär zwischen den Genres Genealogie, Sozialgeschichte und praxeologischer Kulturgeschichte. Er zeichnet dabei Familiennetzwerke nach, die biologische, affektive und soziale Verbindungen umfassen.
Ausgangspunkt seiner Arbeit sind drei Familiengründungen um 1790, deren Entwicklungen Ristau bis 1870 verfolgt. Quellen aus Gemeindearchiven, Heirats- und Handelsregistern sowie privater Korrespondenz bilden das dichte Materialfundament seiner Reflexionen. Der Autor versteht die Familie Bondi als offenes soziales Gefüge, das auf vielfältige Weise mit anderen, nichtjüdischen Milieus verbunden war. Damit löst er sich von linearen Emanzipationsnarrativen und legt eine Geschichte der Beziehungsarbeit vor, die soziale Integration wie Differenz gleichermaßen sichtbar macht.
In den sieben Kapiteln des umfangreichen Bandes werden detailliert zentrale Aspekte in den Fokus gerückt und unter den Überschriften bzw. Themenfeldern »Anfänge«, »Praktiken«, »Ressourcen« und »Knotenpunkte: Räume und Orte« erörtert. Besonders überzeugend entfaltet Ristau seine Argumentation in Kapitel drei seiner Studie, das den Titel »Praktiken« trägt und die familiären Alltagsvollzüge in den Mittelpunkt rückt. Hier werden anschaulich Eheschließungen, Kindererziehung, Taufentscheidungen, Namensgebung sowie häusliche Rituale als Modi sozialer Positionierung analysiert. Ristau arbeitet hier heraus, dass sich jüdische und bürgerliche Lebensformen in der Familie Bondi nicht ausschlossen, sondern sich wechselseitig durchdrangen. Somit erscheint die Zugehörigkeit zum Judentum als Ergebnis relationaler Praktiken, das heißt als eine performative, in alltäglichen Handlungen erzeugte Identität. Die empirische Dichte des Kapitels »Praktiken« ist in diesem Kontext außerdem besonders hervorzuheben: Ristau analysiert etwa, wie Heiratsstrategien innerhalb und außerhalb jüdischer Kreise sowohl ökonomische als auch moralische Funktionen erfüllten. Gerade Pflege- und Adoptionsverhältnisse machen sichtbar, dass Zugehörigkeit primär durch soziale Beziehungen und nicht durch Abstammung definiert wurde. Der Autor liest Briefe, Haushaltsdokumente und Porträts als Ausdrucksformen dieser relationalen Identität. Seine Fallbeispiele verbinden sich zu einem überzeugenden und mitreißenden Gesamtbild des »bürgerlichen Wertehimmels« als eines sozialen Erfahrungsraums, in dem das Jüdische alltäglich verhandelt wurde.
In Kapitel 5 (»Knotenpunkte: Räume und Orte«) öffnet Ristau den Blick auf die städtischen Kontexte dieser Beziehungen: Dresden, Mainz und Hamburg erscheinen als unterschiedliche Erfahrungsräume, in denen sich Formen jüdischer Präsenz und Integration ausprägten. Während Dresden durch höfische Konventionen und Assimilationsdruck gekennzeichnet war, entwickelte Mainz ein stärker reformorientiertes Gemeindeleben; Hamburg wiederum bot durch seine Handelsverflechtungen eine vergleichsweise offene Atmosphäre. Diese räumliche Perspektive macht deutlich, dass Identität nicht nur in Familien, sondern auch in urbanen Kontexten ausgehandelt wurde: Der Stadtraum fungiert hier als eine Art öffentlicher Bühne, auf der bürgerliche und religiöse Rollen gleichsam ineinander übergingen.
Der methodische Mehrwert und historische Erkenntnisgewinn des Buchs liegt in der Verbindung von Mikro- und Makroebene: Die Bondis werden von Ristau nicht als exotischer »Sonderfall« jüdischer Geschichte, sondern als exemplarische Akteure einer bürgerlichen Moderne dargestellt. Seine Studie verbindet sozialhistorische Präzision mit kulturwissenschaftlicher Offenheit, wobei die Darstellung und Sprache trotz des großen Umfangs nie den Fokus verliert und durchweg klar und quellennah ist.
Kritisch ließe sich anmerken, dass die positive Betonung von Vernetzung und Hybridität gelegentlich die ebenso vorhandenen Konfliktzonen der bürgerlichen Gesellschaft überblendet: Antijüdische Exklusionsmechanismen, rechtliche Einschränkungen und soziale Spannungen treten eher am Rande auf. Hier hätte eine kontrastierende Darstellung den Spannungsbogen zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss stärker hervortreten lassen können. Auch die Fülle an Detailbeobachtungen erschwert stellenweise die Orientierung im argumentativen Verlauf; dennoch bleibt die Gesamtstruktur klar nachvollziehbar.
Trotz dieser kleineren Einwände bietet Ristaus Studie einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung jüdischer Familien- und Sozialgeschichte im langen 19. Jahrhundert. Sie zeigt, dass das Jüdische als gelebte Beziehungspraxis verstanden werden kann, d.h. als Resultat alltäglicher Interaktion, räumlicher Verortung und kultureller Übersetzungsarbeit. Die Familie Bondi und das »Jüdische« ist somit eine hervorragend recherchierte, methodisch anspruchsvolle und inhaltlich reichhaltige Studie, die einen wichtigen Beitrag zur Familien- und Netzwerkgeschichte jüdischer Familien im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts leistet. Wer sich mit diesen Themen befassen möchte, findet hier sowohl neues empirisches Material als auch kluge Denkmodelle für Beziehungen, Identität und Zugehörigkeit in einer Zeit des tiefgehenden sozialen Wandels.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Silvia Richter, Rezension von/compte rendu de: Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das »Jüdische«. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790–1870, Göttingen (V&R) 2022, 611 S., 15 Abb. (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, 22), ISBN 978-3-525-36858-9, EUR 85,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114150





