Mit Öffentlichkeit als Waffe legt Jan Siegemund eine äusserst überlegte, sorgfältige Auseinandersetzung mit frühmodernen Schmähschriften vor. Am Ausgangspunkt seiner Arbeit steht die Beobachtung, dass die bisherige Forschung Schmähschriften weitgehend entweder starr in ihrer Funktion innerhalb rechtlicher Auseinandersetzungen oder im Gegenzug mit einiger Unschärfe als Medium populärer Obrigkeitskritik behandelt. Seine Arbeit bietet einen überzeugenden Ansatz, beide Stränge zusammenzudenken. Darüber hinaus fungiert Öffentlichkeit als Waffe als Plädoyer für das vertiefte Studium frühmoderner handgeschriebener und mündlicher Kommunikation innerhalb eines historiografischen Felds, das die Wichtigkeit des gesprochenen und geschriebenen Worts allzu gern heraufbeschwört, um dann doch immer wieder Druckschriften in den Vordergrund zu stellen.
Die Grundannahmen von Siegemunds Arbeit werden in einem ausführlichen Einführungsteil entlang der zwei Pole Ehr- und Konfliktgeschichte und Öffentlichkeitsgeschichte ausgebreitet. Das Leitinteresse des Autors ist dabei auf die Wirkung von Schmähschriften innerhalb eines dynamischen Rezeptionsvorgangs gerichtet. Insbesondere das Zusammenspiel von Schmähschrift und Gerücht steht wiederholt im Zentrum von Siegemunds Überlegungen. Diese Überlegungen entfaltet der Autor anhand von vier konkreten Episoden zwischen 1569 und 1599 im Raum Kursachsen, in denen Schmähschriften in unterschiedlichen Konfliktkonstellationen zum Einsatz gebracht wurden.
Die erste Fallstudie ist als Einführung in die Grunddynamiken der Schmähschriftenkultur angelegt. Siegemund nutzt die gerichtliche Auseinandersetzung um ein paar Leipziger Pasquillen dazu, den Einsatz von (oft geschlechtsspezifischer) Komik darzustellen, die in ihrer blossstellenden Wirkung an Rügebräuche anschliesst. Auch führt der Autor hier mit der Betonung der Anschlusskommunikation eines der Leitthemen der Arbeit ein: die von Schmähschriften kolportierten Anschuldigungen, so der Autor, werden dem breiteren Publikum weniger häufig durch direkte Lektüre, sondern durch diverse mündliche Kommunikationsakte bekannt.
In der zweiten Fallstudie verknüpft der Autor dann diesen Befund mit dem von James C. Scott geprägten Begriff der weapons of the weak. In einer asymmetrischen Konfliktkonstellation – hier etwa ein einfacher Zuckerbäcker gegen einen sächsischen Adligen – fungierten Schmähschriften als »Jedermanns-Ressource«, um festgefahrene juristische Auseinandersetzungen wieder zu beleben. Siegemund stellt überzeugend dar, dass oft weniger der genaue Inhalt, als der bloße allgemeine Fakt, dass ein Individuum von Schmähschriften öffentlich aufs Korn genommen wurde, eine solche Dynamik lostreten konnte.
Auch in politischen Streitigkeiten wurden Schmähschriften so zu einem Mittel, Öffentlichkeit strategisch einzusetzen. Die beiden abschließenden Fallstudien zeigen, wie obrigkeitskritische Schmähschriften ihre Wirkmacht daraus zogen, den Vorwurf individueller Morallosigkeit und politischer Verantwortungslosigkeit mit der diffusen Androhung von Unruhen zu verschmelzen. Die unbestimmte Autorschaft von Schmähschriften generierte dabei Verdachtsfälle in alle möglichen Richtungen, wie Siegemund in einem besonders interessanten Unterkapitel darzustellen vermag. Nicht selten wähnten sich die behaupteten Urheber von Schmähschriften als die eigentlichen Opfer einer gegen sie gerichteten Verschwörung. Und tatsächlich waren es ja in der Regel die vermeintlichen Autorinnen und Autoren, die als größte Verliererinnen und Velierer aus der eigenen Schmähschriftenkampagne herausgingen. Für Siegemund zeigt sich in dieser Aktivierung konspirativer Denkmuster ein weiterer Faktor für die oft durchschlagende gesellschaftliche Wirkmacht von Schmähschriften. Dass das ganze Pasquillengeschäft für uns Heutige dann doch recht oft selbstschädigend anmutet, relativiert er etwas pauschal mit einem Hinweis auf die besondere emotionale Aufladung solcher Konflikte, sowie die eigenwillige Rationalität und Möglichkeit drastischer Fehlkalkulationen aufseiten der darin verwickelten Akteurinnen und Akteure.
Durchgehend überzeugend ist Siegemunds Arbeit dann, wenn es darum geht, die von ihm erforschten Schriften in ihren verschiedensten Facetten zu deuten und in ihren Entstehungszusammenhängen zu situieren. Ebenso beeindruckt die Fähigkeit des Autors, eine Vielzahl historiografisch-konzeptioneller Bezüge für seine Forschungsfragen nutzbar zu machen. Nur gelegentlich wird die Abfolge von Begrifflichkeiten und Konzepten dann doch etwas ausufernd, und manche weit entfernten Forschungskonzepte stehen in allzu scheinbarer Eintracht nebeneinander. Siegemund eignet sich die von ihm aufgerufenen Konzepte durchaus pragmatisch an, was sich etwa in dem in der Arbeit wiederholt auftauchenden Konzept der weapons of the weak zeigt. Was bei Scott als sozialromantisch aufgeladener Begriff für kommunikative Sabotageakte von Herrschaftsstrukturen durch flüchtige Äußerungsformen firmiert, bezeichnet bei Siegemund die Fähigkeit, mit der skandalisierenden Kraft von Schmähschriften sozial Höherrangige zu einer offenen Konfliktaustragung zu zwingen. Nicht ganz konsistent ist hingegen seine wiederholte Bezeichnung von Schmähschriftkonflikten als Stellvertreterkonflikt. Wenn Ehre, so wie der Autor entlang der bestehenden Forschung feststellt, als »transzendente Bezugsgrösse […] über allen anderen Kategorien sozialer Positionierung« (41) fungiert, warum dann die Trennung von vermeintlichem Sachkonflikt und ersatzweisem Ehrkonflikt? Siegemund betont selbst im Schluss der Arbeit, dass eine völlige Loslösung von Sach- und Ehrkonflikt nie vollzogen wird, und bietet das wesentlich überzeugende Denkmodell einer Verschaltung »unterschiedliche[r] Konfliktlinien im Modus der Herabsetzung« (346).
Dies sind im Rahmen des Gesamtwerks geringfügige Dissonanzen, welche einmal mehr die Schwierigkeit unterstreichen, den Begriff der Ehre historiografisch handhabbar zu machen. Den Schlussteil seiner Arbeit nutzt Siegemund für eine Reihe deutlicher Einordnungen. Schmähschriften waren wirksame, ressourcenarme Mittel der Streiteskalation, die somit insbesondere sozial niederrangigen Streitbeteiligten offenstanden. Die Wirksamkeit dieses Mittels war bedingt durch ihre Vermischung von privater Schelte und politischer Kritik, durch die mangelnde Greifbarkeit ihrer Urheber und das Dilemma, dass jede Gegenantwort die Virulenz der Ursprungsbotschaft erhöhte. Ein Großteil der Wirkung dieser Schriften erfolgte mit einiger Distanz zum Ursprungstext, in Form von anschließendem Gerede und Gerücht, produziert und verstärkt über verschiedene Rezeptionszirkel. Anhand dieser Wirkungsweisen und Verbreitungsdynamiken argumentiert Siegemund überzeugend dafür, dass Zeitgenossen das »imaginaire einer ungeteilten Öffentlichkeit stets als Hintergrund sozialer Handlungen«(351) mitdachten. Wer von dieser gründlich herausgearbeiteten These noch nicht überzeugt ist, kann sich anhand der im Anhang abgedruckten Transkriptionen ein eigenes Bild der zitierten Pasquillen machen. Alle anderen dürften in Siegemunds Buch ein für die weitere Forschungsarbeit an frühmodernen Schmähschriften obligatorisches Werk finden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Markus Bardenheuer, Rezension von/compte rendu de: Jan Siegemund, Öffentlichkeit als Waffe. Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, München (UVK) 2024, 428 S. (Konflikte und Kultur, 41), ISBN 978-3-7398-3203-6, EUR 54,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114151





