Wälder erscheinen in der mittelalterlichen Überlieferung als Schnittstellen von Natur, Religion und Gesellschaft, an denen Erzählungen, Rituale und Bilder Formen des Wissens bündeln. Der hier zu besprechende Sammelband nimmt diesen Zusammenhang auf, indem er den Baum als materielles Objekt und Denkbild in den Mittelpunkt stellt: »[In] seek[ing] to understand the agency of trees in human communication« (3) fragen die Herausgebenden dabei, wie Bäume und Wälder das Denken, Wahrnehmen und Erzählen des Mittelalters prägten und welche Rolle sie in den Symbol- und Wissensordnungen in der Zeit vor 1500 spielten. Der Baum erscheint mithin nicht als bloßes Motiv, sondern als Medium, das materielle Welt und geistige Deutung miteinander verschränkt.
Die Offenheit des Ansatzes spiegelt sich auch in der Anlage des Bandes als Florilegium wider: So beschreiben Mike Bintley und Pippa Salonius die versammelten Beiträge in ihrer Einleitung (2–11) als Geflecht von Fallbeispielen, das kein geschlossenes System, sondern ein Netzwerk von Bezügen bilde. In der Tat entfaltet der Band unterschiedliche Perspektiven auf das Arboreal, die von der ökologisch-theologischen Symbolik des Waldes über materielle Transformationen in Kunst und Kult bis hin zu diagrammatisch-kosmologischen Baumfiguren in scholastischen und islamischen Wissenssystemen reichen. Entsprechend folgen die Beiträge auch keiner linearen Chronologie, sondern sind eher als bewusst offene Verästelungen »with comparable and contrasting complementary qualities« (7) zu verstehen, die Aspekte aus der Theologie, Literatur- und Kunstgeschichte sowie aus der Wissens- und Kulturgeschichte zusammenbringen und einen Bogen von außereuropäischen respektive transkulturellen bis hin zu volkssprachlichen Kontexten spannen.
Die Fallstudien selbst beginnen mit zwei Beiträgen der Herausgebenden: Pippa Salonius legt eine ambitionierte, in ihrer interkulturellen Perspektive innovative Studie vor (12–65), die christliche Baum- und Waldsymboliken mit Vorstellungen aus der Māori-Tradition vergleicht: In beiden Kontexten erscheine der Baum als epistemisches Modell, das Abstammung, Wissen und Weltordnung miteinander verschränke. Mike Bintley überträgt diesen Ansatz auf die altenglische Dichtung (66–85): Anhand von Baummotiven im Beowulf arbeitet er heraus, dass der Wald dort die moralische und materielle Peripherie der menschlichen Existenz bildete – von der paradiesischen Schöpfung über Grendelsmoor bis hin zum Ravenswood. Im Vergleich mit frühenglischen Artefakten zeigt er zudem auf, wie Baumformen Text, Bild und Materialkultur gleichermaßen prägten – und veranschaulicht dadurch das Ineinandergreifen moralischer und materieller Bedeutungsebenen.
Meg Boulton richtet den Blick sodann auf die materielle Seite des Arboreals und überträgt das Denken in Baumformen auf frühenglische Skulpturen (86–112): Dabei zeigt sie eindrücklich auf, wie Holz, Stein und Knochen als Träger des Baumhaften Natur, Erinnerung und Transzendenz verkörperten. Während Boulton so die Stofflichkeit der Werke im Horizont einer »material ecology« (88–89) als Bedeutungsträger sichtbar macht, verknüpft Laura Chuhan Campbell die Frage nach der Materialität mit Aspekten von Sakralität: An lateinischen und französischen Versionen der Wood of the Cross-Legende aus dem 12. und 13. Jahrhundert analysiert sie in ihrem Beitrag (113–131), wie das Kreuzholz als Medium zwischen Inkarnation und irdischer Substanz fungierte: Es selbst wurde kein »thinking or speaking subject, but instead articulate[d] its divine purpose through its very objecthood […]« (125).
Die drei folgenden Beiträge wenden sich kognitiven Aspekten des Baumdenkens zu und verschieben den Fokus somit von der Materialität zu Aspekten der Ordnung und Imagination von Wissen: José Higuera Rubio zeichnet die Genese vom Baum des Wissens nach und bietet damit einen Überblick über die Transformation von Bäumen zu einem bekannten epistemischen und diagrammatischen Organisationsmodell (nicht nur) mittelalterlicher Wissenssysteme (132–153). Naïs Virenque erweitert diesen Zugriff, indem sie in ihrem Beitrag (154–183) die Räume von Wald, Hain und Garten auf der Grundlage der ars memoriae als topographische Modelle des Gedächtnisses deutet und so eine originelle Verbindung von Vegetabilität und kognitiver Praxis diskutiert. Pauline Leplongeon richtet schließlich den Blick auf die volkssprachliche Didaxe und zeigt in ihrer Analyse von über 750 Ci nous dit-Exempeln, wie Pflanzen- und Gartenmotive zu Trägern moralischer Ordnung wurden (184–201). Gemeinsam verdeutlichen diese Studien, wie sich arboreales Denken von logischen Aspekten über mnemotechnische Modellierungen bis in Aspekte der Morallehre hinein entfaltete.
Samer Akkach weitet in seinem Schlussbeitrag (202–227) den Horizont nochmals über lateinische Kontexte hinaus und analysiert Baummetaphern in der islamischen Mystik: Diese deutet er als kosmisches Prinzip, das Schöpfung genealogisch, geometrisch und sprachlich strukturiert und zum Medium göttlicher Ordnung wird. Mit dem Text von Salonius bildet Akkachs Beitrag so die interkulturelle Klammer des Bandes: Beide belegen eindrücklich, dass das Denken in Baumformen kein dezidiert christliches, sondern vielmehr ein globales Phänomen der Weltdeutung ist, in dem Natur und Geist sowie Materie und Metapher unauflöslich ineinandergreifen. Beschlossen wird der Band durch eine knappe Zusammenfassung (228–232) und eine Appendix (233–240), die weit über eine bloße Literaturliste hinausreicht und als Forschungsüberblick zentrale Arbeiten zu Bäumen, Diagrammen und vegetabiler Symbolik von der Antike bis zur Gegenwart zusammenführt. Eine Bibliographie (241–276) und ein sorgfältig angelegter Index (277–290) runden den Band ab.
Insgesamt besticht die Publikation durch ihre Vielfalt an Perspektiven, mit denen das Arboreal als ästhetisches, materielles und erkenntnistheoretisches Prinzip des Mittelalters beleuchtet wird. Besonders stark sind jene Beiträge, die die Verbindung von Materialität und Idee produktiv machen oder durch interkulturelle Vergleiche und epistemische Modelle neue Zugänge eröffnen. Nicht zuletzt deswegen hätte eine stärker synthetisierende Rahmung diese Verästelungen im Sinne der Anknüpfungsfähigkeit für weitere Forschungen indes noch enger zusammenführen können: So schließen die »Concluding Reflections« (228–232) den Band zwar atmosphärisch, verzichten aber auf eine genaue theoretisch-argumentative Zusammenführung.
Dabei eröffnet der Band viele wertvolle Anknüpfungsmöglichkeiten – so etwa für eine ökologische Wissensgeschichte vormoderner Episteme, interkulturelle Diagrammatiken oder materialästhetische Lesarten von Kunst und Theologie – und zeigt damit, wie fruchtbar der Blick auf das Vegetabile für eine kulturwissenschaftlich orientierte Mediävistik sein kann. Seine Stärke liegt dabei weniger in einem einheitlichen Programm als in der gemeinsamen Idee, den Baum als Denkfigur zu begreifen – und zeigt in der Wahl dieses Ansatzes, wie gewinnbringend das Arboreale als Denkmodell für die Erforschung vormoderner Wissens- und Symbolsysteme sein kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rike Szill, Rezension von/compte rendu de: Michael D. J. Bintley, Pippa Salonius (eds.), Trees as Symbol and Metaphor in the Middle Ages. Comparative Contexts, Cambridge (Boydell & Brewer) 2024, XV–290 p., 22 b/w fig., 15 col. fig. (Nature and Environment in the Middle Ages, 8), ISBN 978-1-84384-664-2, DOI 10.1017/9781805432616, GBP 95,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114266





