Der Dictionnaire des régionalismes médiévaux: la Galloromania nord-orientale, kurz DRM, ist in der Bibliothèque de Linguistique Romane erschienen, einer Reihe mit hohem Qualitätsanspruch. Sie präsentiert sich auf ihrer Internetpäsenz folgendermaßen: »[…] La BiLiRo réunit ainsi des travaux emblématiques pour la linguistique promue par la Société de Linguistique Romane (SLR)« (https://www.eliphi.fr/#/eliphi/catalogue/biliro). Um es gleich vorwegzunehmen: Der zu besprechende Band erfüllt die Vorgabe eines »travail emblématique« vollständig, was natürlich auch an den Herausgeberinnen und Herausgebern liegt, die sich als Fachleute im Bereich der wissenschaftlichen Lexikographie einen Namen gemacht haben. So hat Hélène Carles 2017 ihren Trésor galloroman des origines (TGO). Les trajectoires étymologiques et géolinguistiques du lexique galloroman en contexte latin (ca 800–1120) publiziert, und Martin Glessgen leitete unter anderem bis 2021 den Dictionnaire onomasiologique de l’ancien gascon (DAG) sowie den Dictionnaire d’ancien gascon électronique (DAGél) in Heidelberg und ist der Spiritus rector des Projektes Documents linguistiques galloromans (DocLing) in Zürich.
Die historische Lexikographie war in der Vergangenheit im deutschsprachigen Raum eine stark vertretene wissenschaftliche Disziplin. So existierten vor 15 Jahren alleine in Heidelberg mit dem Altspanischen Wörterbuch (DEM), dem Altfranzösischen Wörterbuch (DEAF), dem Okzitanischen Wörterbuch (DAO) und dem Gaskognischen Wörterbuch (DAG) vier lexikographische Großprojekte. Aktiv betrieben werden heute in Deutschland der Dictionary of Old Occitan medico-botanical terminology (DiTMAO, Göttingen) und vor allem das Flaggschiff der italienischen Lexikographie, der Lessico Etimologico Italiano (LEI, Saarbrücken/Mannheim).
Die Zeit lexikographischer Großprojekte in Deutschland scheint vorbei zu sein, und umso wichtiger ist es, dass sich zumindest in der Schweiz Romanisten zusammenfinden, um lexikographische Projekte zu realisieren.
Der DRM besteht aus zwei Teilen: einer »Partie théorique et méthodologique« (3–125) und der »Partie lexicographique« (129-800). Seine Nomenklatur stammt aus den schon erwähnten DocLing und findet sich, und das ist ein entscheidendes Kriterium, in datierbaren und lokalisierbaren Dokumenten des 13. und 14. Jahrhunderts. Erwähnenswert ist, dass auch franko-provenzalische Wörter aufgenommen werden.
Insgesamt präsentiert das Wörterbuch, die »Partie lexicographique«, 385 Artikel, in denen die unterschiedlichen Bedeutungen und auch Syntagmen verzeichnet werden. Wichtig ist hierbei, dass alle in der wissenschaftlichen Lexikographie des Französischen vorhandenen Materialien berücksichtigt werden, zum Teil auch die des Mittellateinischen. So ist auch die chronologische Weiterführung der Informationen aus Carles’ TGO ins 14. Jahrhundert gewährleistet.
Die »Partie théorique et méthodologique« liefert eine Fülle an Informationen, die sich zunächst auf den aktuellen Forschungszustand bezüglich der »scriptologie lexicale« (7‑8), auf die geolinguistische Begrenzung des Corpus und auf eine Beschreibung des altfranzösischen Sprachraums (11‑15) beziehen. Das Kapitel »Constitution de la nomenclature et traitement lexicologique« (15‑19) widmet sich der Beschreibung des Corpus. Interessant ist hierbei, dass 95 % der Einträge des DRM im Dictionnaire du Moyen Français (DMF) und im DEAF nicht regional markiert sind. Schauen wir uns ein Beispiel näher an: Der DEAF-Eintrag J 571 jorné (Städtler) erklärt die maskuline Form (ein Beleg aus Rutebeuf) als eine durch den Reim bedingte Bildung (jor né: jorné), während der Autor des DRM-Artikels sie wohl zu Recht mit den gut belegten champagnischen Formen des DRM zusammenbringt, was die These Städtlers bezüglich des Reims aber nicht schwächt. Ob Rutebeuf wirklich aus der Champagne stammt, ist allerdings nicht sicher (er lebte in Paris) und die Basishandschrift ist franzisch. Prinzipiell war das Redaktionsteam des DEAF sehr zurückhaltend, was die diatopische Identifikation einer Form betrifft (zumal wenn sie nur einmal belegt war). Im vorliegenden Fall zeigt sich nun aber dank der im DRM versammelten Belege, dass es sehr plausibel ist, jorné als Wort des Ostens, wahrscheinlich aus der Champagne, zu interpretieren.
Bezüglich des Verhältnisses von Schreibung und Mündlichkeit halten Carles und Glessgen fest: »Un constat quelque peu paradoxal concerne le fait que la régionalité médiévale est un phénomène exclusif de l’écrit mais qu’elle sert néanmoins de base au français régional qui se développe à l’oral à partir des XVIe et XVIIe siècles« (34). Dieser Aussage ist völlig zuzustimmen; eine Zwischenposition nehmen hier allerdings die judäo-französischen Glossen ein (bearbeitet in unserem Projekt Bibelglossare als verborgene Kulturträger: https://www.hadw-bw.de/bibelglossare), die in hebräischen Buchstaben altfranzösische Wörter aufführen. Nach zwei Jahren Editionsarbeit sehen wir hier Formen, die eine phonetische Realität abbilden.
»La régionalité lexicale dans les textes non documentaires« (35‑65) von Marco Robecchi und ein Repertorium der im DRM erschlossenen Quellen (67‑106) von Alessandra Bossone und Marco Robecchi sowie eine Bibliographie der Sekundärliteratur (107‑125) beschließen die »Partie théorique et méthodologique«.
Die Artikel sind ausgezeichnet strukturiert und bieten eine verlässliche Dokumentation der Formen. Auffällig ist, dass die belegte Form als Titelwort verwendet wird und nicht eine erschlossene: So findet man im DRM das Lemma jurabletté, wo im DEAF *jurableté zu lesen ist. Besonders hervorzuheben ist, dass alle Materialien, also auch die, die nicht aus der Datenbank des DocLing kommen, chronologisch in die Belegstruktur des Artikels aufgenommen werden. Positiv ist ebenfalls, dass die Bedeutung in eine phrastische Definition gefasst und somit auf einfache Translationsangebote verzichtet wird.
Im Rahmen einer Kurzrezension auf alle Schätze einzugehen, die der DRM bereithält, ist eine Aufgabe, die nicht zu meistern ist. Der Band wird, das ist sicher, für die kommenden Jahrzehnte die Referenz für skriptologische, lexikalische und auch semantische Analysen im Bereich des Altfranzösischen bleiben.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephen Dörr, Rezension von/compte rendu de: Hélène Carles, Martin Glessgen, Marco Robecchi, Alessandra Bossone, Dictionnaire des régionalismes médiévaux: la Galloromania nord-orientale (DRM). Une analyse des Documents linguistiques galloromans (XIIe–XVe s.), Strasbourg (Éditions de linguistique et de philologie) 2024, X–810 p. (Bibliothèque de Linguistique Romane, 19), ISBN 978-2-37276-069-0, DOI 10.46277/eliphi.2024.069.0, EUR 78,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114268





