Der Band bildet den Abschluss eines über zwölf Jahre laufenden Forschungsprojekts der Universität Kiel zur Kölner Buchmalerei und dokumentiert zugleich die Beiträge der 2022 in Gießen veranstalteten Abschlusstagung. Im Mittelpunkt steht das um 1000 entstandene Gießener Evangeliar, dessen Stellung innerhalb der sogenannten »Malerischen Gruppe« der Kölner Buchmalerei in neuen kunsthistorischen, materialtechnischen und historischen Perspektiven untersucht wird. Der Band schlägt eine umfassende Neubewertung der »Malerischen Gruppe« vor, die deutlich früher zu datieren sei als bislang angenommen. Tatsächlich bietet die Publikation weniger eine zusammenfassende Neudeutung als vielmehr eine in ihrer Breite beeindruckende Bestandsaufnahme, die das Gießener Evangeliar, aber auch andere weniger beachtete Handschriften der »Malerischen Gruppe«, erstmals konsequent in den Kontext der ottonischen Kunst einbindet.

Bereits die Einleitung des Herausgebers, die zugleich als Rückblick auf die Geschichte des Kieler Projekts fungiert, verdeutlicht, dass die »Malerische Gruppe« nach wie vor Gegenstand offener Fragen zu Abgrenzung und Datierung bleibt. Während die ältere Forschung – etwa Bloch und Schnitzler – von einer weit gefassten Entstehungsspanne ausging, legen die im Band versammelten Beiträge eine deutlich engere Datierung nahe: Die Handschriften dürften, so die aufeinander verweisenden Ergebnisse, zwischen etwa 984/985 und 991, also in den Jahren um den Tod der Kaiserin Theophanu, entstanden sein. Diese Präzisierung, die Beuckers in seinem grundlegenden Beitrag mit der Bautätigkeit an St. Pantaleon in Köln verbindet, gehört zu den wichtigsten neuen Erkenntnissen des Bandes.

Insgesamt gliedert sich der Sammelband neben der Einführung in 16 Beiträge, von denen der Großteil das Gießener Evangeliar selbst in den Mittelpunkt stellt. Olaf Schneider zeichnet in akribischer Rekonstruktion den Weg der Handschrift von Köln nach Gießen nach. Klaus Gereon Beuckers verortet das Evangeliar innerhalb der »Malerischen Gruppe« und plädiert auf der Grundlage stilistischer und ikonographischer Beobachtungen für eine eng gefasste Datierung aller zugehörigen Handschriften. Ursula Prinz widmet sich der ornamentalen Formensprache der Handschrift und zeigt, wie das Ornament als strukturierendes und zugleich expressives Gestaltungselement über die rein dekorative Funktion hinausgeht und zwischen gegenständlicher und abstrakter Bildsprache vermitteln kann. Doris Oltrogge und Robert Fuchs liefern mit ihren materialanalytischen Untersuchungen zu Farbmitteln und Metallaufträgen wichtige Grundlagen für zukünftige technische Studien: Das breite Spektrum von Farbstoffen und Pigmenten zeichnen das Gießener Evangeliar durch ihre Vielfalt als besonders aufwendig aus. Vivien Bienert analysiert die Kreuzigungsdarstellung (fol. 188r) im Vergleich mit zeitgleichen Beispielen aus Malerei, Goldschmiedekunst und Monumentalskulptur und zeigt die singuläre ikonographische Position des Gießener Bildes. Matthias Schrör identifiziert in den Medaillons der Liber generationis-Seite (fol. 12r) Otto III. sowie die Erzbischöfe Egbert von Trier, Everger von Köln und Willigis von Mainz und datiert das Werk in den politisch-kirchlichen Kontext der Jahre 985–993, während Jens Lieven die Rolle Lotharingiens im ottonischen Reich systematisch erschließt. Beate Braun-Niehr untersucht das Capitulare evangeliorum des Gießener Codex und vergleicht es mit weiteren Kölner Evangelienhandschriften. Besonders hervorzuheben ist der tabellarische Anhang mit der Edition der Perikopen (fol. 237r–250r), der als Arbeitsinstrument über den Einzelbeitrag hinausweist.

Die folgenden Studien erweitern den Blick auf die »Malerische Gruppe« und das weitere Umfeld der Kölner Buchmalerei. Joshua O’Driscoll widmet sich den Tituli der Kölner Handschriften und interpretiert deren Verwendung als Reflexion über das Verhältnis von Text und Bild; fehlende Beischriften erklärt er überzeugend als spätere Produktionsstufe. Fabrizio Crivello untersucht das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C 53 sup.) und die dortige Johannesikonographie, Cécile Voyer das Sakramentar von St. Gereon (Paris, BNF, lat. 817), das sie als visuell-meditative Diptychen deutet. Elisabeth Luger-Hesse dokumentiert Provenienz und Restaurierung des ottonischen Evangeliars Bestand 7010 Nr. 312 im Historischen Archiv der Stadt Köln. Claudia Höhl richtet den Blick auf Prüm und hebt die Verflechtung der dortigen Buchproduktion im Kloster mit der Kölner Malerei hervor. Abschließend stellen Eliza Garrison, Jochen Vennebusch und Markus Späth die ottonische Buchmalerei in den weiteren Kontext der zeitgenössischen Kunstproduktion: Garrison analysiert die varietas und den ductus ottonischer Illumination, Vennebusch die Beziehungen zwischen Elfenbeinreliefs und Buchmalerei, Späth schließlich die Parallelen zwischen Goldschmiedekunst und Handschriftenausstattung.

Besonders hervorzuheben sind die am Ende des Bandes beigegebenen 96 Farbtafeln, die das Gießener Evangeliar nahezu in Originalgröße zeigen. Sie vermitteln einen ausgezeichneten Eindruck von Format, Farbigkeit und Bildrhythmus der Handschrift und stellen einen erheblichen Gewinn gegenüber den kleineren Vergleichsabbildungen in den Beiträgen dar. Einzelne Artikel hätten zudem durch zusätzliche Abbildungen, etwa bei Schrörs ikonographischen Vergleichen, an Anschaulichkeit gewonnen. Bedauerlich ist das Fehlen eines Handschriften- oder Bildregisters. Die uneinheitliche Benennung der Handschriften erschwert die Orientierung; eine Übersicht hätte hier Abhilfe schaffen können.

Trotz dieser kleinen Defizite stellt der Band einen beachtlichen Fortschritt in der Erforschung der ottonischen Buchmalerei dar. Besonders eindrucksvoll ist die Breite der Zugänge – von stil- und ikonographischen über materialtechnische bis zu kulturhistorischen Analysen –, die nicht nur das Gießener Evangeliar, sondern auch die »Malerische Gruppe« in ein nuancierteres Licht rücken. Gerade in dieser Vielfalt liegt jedoch auch eine gewisse Schwäche des Bandes: Die Beiträge eröffnen zahlreiche neue Perspektiven, beziehen sich in einzelnen Aspekten zwar aufeinander, bleiben aber dennoch weitgehend nebeneinander stehen. Eine zusammenführende Synthese, die die Ergebnisse in eine kohärente Deutung der »Malerischen Gruppe« oder der Kölner Buchmalerei um 1000 einbindet, wird nicht versucht. So entsteht der Eindruck einer facettenreichen Bestandsaufnahme, die reich an Detailbeobachtungen und weniger an übergreifenden Schlussfolgerungen ist. Dass der Band die Fülle der in zwölf Jahren erarbeiteten Perspektiven nicht in einer abschließenden Synthese bündeln kann, mindert seinen wissenschaftlichen Wert nicht; vielmehr zeigt sich hier der Reichtum einer Forschung, die sich in Bewegung versteht. Der Band belegt eindrucksvoll die methodische Lebendigkeit der aktuellen Buchmalereiforschung und wird durch seine Materialfülle und präzisen Analysen für die künftige Beschäftigung mit der »Malerischen Gruppe« und der Kölner Buchmalerei um 1000 unverzichtbar bleiben.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lisa Horstmann, Rezension von/compte rendu de: Klaus Gereon Beuckers, Ursula Prinz (Hg.), unter Beteiligung von Markus Späth, Das Gießener Evangeliar und die Malerische Gruppe der Kölner Buchmalerei in den Jahren um 1000, Wien, Köln (Böhlau) 2023, 456 S., 186 Abb. (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, 9), ISBN 978-3-412-52487-6, DOI 10.7788/9783412524890, EUR 79,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114279