Wie die Académie des inscriptions et belles-lettres ist auch deren Mitarbeiter Jean-Loup Lemaitre fast schon eine Institution: Seit Jahrzehnten publiziert er in regelmäßigen Abständen neue Editionen von Nekrologien und Anniversar- oder Jahrzeitbüchern in der Reihe Obituaires des Recueil des historiens de la France. Als größter Kenner solcher kalendarisch organisierten Listen der Gedenkfeierlichkeiten kirchlicher Institutionen hat er 1980 mit seinem Répertoire des documents nécrologiques français auf die sowohl inhaltlich wie zahlenmäßig fast unerschöpfliche Vielfalt dieser Quellengattung aufmerksam gemacht. Weit über 3000 Manuskripte aus allen französischen Provinzen konnte er darin zusammentragen . Jedes einzelne dieser Dokumente bietet Einblick in die religiösen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse vor Ort. Zugleich sind sie die wichtigsten Zeugnisse des liturgischen Gedenkwesens, das im Mittelalter ganz Europa umspannte und in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Stichwort »Memoria« intensiv erforscht wurde.

Nachdem Lemaitre sein Repertorium abgeschlossen hatte, ging er folgerichtig dazu über, einige der interessantesten Manuskripte zu edieren. Wer die verstreute Überlieferungssituation und die paläographischen Schwierigkeiten dieser Dokumente kennt, weiß zu schätzen, dass dieses ebenso aussagekräftige wie heterogene Material dadurch leichter zugänglich gemacht wird, erspart eine gute Edition doch in den meisten Fällen zeitaufwändige Archivreisen. Seit der Einführung der neuen Editionsreihe Obituaires im Jahr 1985 hat Lemaitre fast zwei Dutzend Bände selbst bearbeitet, an fast allen weiteren war er in irgendeiner Form beteiligt. Nun legt er den 32. Band vor, der den Gedenkaufzeichnungen der Kollegiatstifte in der Diözese Limoges gewidmet ist. In dieser Diözese gab es zwölf Kollegiatstifte, doch haben sich nur von vier von ihnen nekrologische Schriftstücke erhalten, nämlich von Saint-Étienne d’Eymoutiers, Saint-Pierre du Dorat, Saint-Junien und Saint-Léonard de Noblat. Ergänzt wird der Band durch die Edition der Nekrologien von Saint-Martin de Tulle. Die dortige Abtei wurde 1317 durch Papst Johannes XXII. von der Diözese Limoges abgetrennt und zu einem eigenen Bistum erhoben, wobei die monastische Struktur des Kapitels erst 1514 einem säkularisierten Chorherrenstift wich.

Die hier edierten nekrologischen Schriftstücke entstanden allesamt erst als Abschriften im 17. Jahrhundert, reichen inhaltlich jedoch bis ins Spätmittelalter zurück. So konnte Lemaitre von den vier Kollegiatstiften der Diözese Limoges insgesamt über 500 Einträge kompilieren, während es bei Saint-Martin de Tulle über 300 sind. Wie bei anderen kirchlichen Institutionen lassen sich daraus weite Teile der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft rekonstruieren, stifteten neben Chorherren und anderen geistlichen Würdenträgern doch auch diverse Adlige und Bürger der Region für sich und ihre Angehörigen Gedenkfeiern, die in die betreffenden Kalendarien eingetragen wurden.

Der Aufbau des Buchs dürfte sich für Leserinnen und Leser, die nicht in der Tradition der französischen Verlage sozialisiert worden sind, als etwas gewöhnungsbedürftig erweisen: Das Inhaltsverzeichnis findet man ganz hinten (263–264), gefolgt von einem Überblick über die gesamte Reihe der Obituaires (265‑266). Demgegenüber befindet sich die Bibliographie an relativ prominenter Stelle fast am Anfang des Buchs (9–19). Davor platziert sind nur das Vorwort (»Préface«) des Herausgebers und ein weiteres Vorwort (»Avant-propos«) des Bearbeiters, die beide einen – teils komplementären, teils sich überschneidenden – Überblick über die Entstehung der Edition wie auch bereits über die Geschichte der berücksichtigten Institutionen und ihrer Überlieferung bieten.

Der erste Hauptteil ist wie erwähnt den vier Kollegiatstiften in der Diözese Limoges gewidmet, von denen sich nekrologische Schriftstücke erhalten haben (21–132), der zweite der Abtei und nachmaligen Kathedrale von Tulle (133–226). In beiden Teilen bietet Lemaitre zuerst eine Einführung in die Geschichte dieser Institutionen, um anschließed die der Edition zugrunde gelegten Manuskripte zu beschreiben. Vor beziehungsweise nach der Edition sind Tafeln (»Planches«) mit Abbildungen platziert, die einzelne Seiten aus den edierten Dokumenten sowie Ausschnitte aus historischen Karten und Bauplänen zeigen. Die Register (»Tables«) mit Orts- und Personennamen finden sich wiederum für beide Teile ganz hinten im Buch (229–260). Allerdings wurden die Register zu Limoges und Tulle getrennt angelegt und bei letzterem auch noch Sachbegriffe (»principales matières«) hinzugefügt. Als Referenz zwischen Register und Edition wurde jedem einzelnen Eintrag in runden Klammern eine Nummer hinzugefügt.

Fast ebenso viel Platz wie die edierten Texte nehmen naturgemäß die Fußnoten ein, in denen Lemaitre einige der eingetragenen Personen identifiziert und auf weiterführende Literatur verweist. Die Editionsrichtlinien werden in dem Band nicht eigens erläutert; stattdessen verweist Lemaitre auf einen Runden Tisch mit Spezialistinnen und Spezialisten aus Frankreich, Deutschland, Belgien und Italien im Jahr 1979, wo Regeln für die Edition von nekrologischen Schriftstücken erarbeitet wurden, die seither für die französische Reihe der Obituaires angewendet werden (4).

Zweifellos kann sich Frankreich glücklich schätzen, dass sich eine Gruppe von ausgewiesenen Expertinnen und Experten der Académie des inscriptions et belles-lettres darum kümmert, das reichhaltige nekrologische Schriftgut durch qualifizierte Editionen systematisch zu erschließen, während entsprechende Bemühungen im deutschsprachigen Raum weitgehend eingeschlafen sind oder sich auf die Neuedition bereits edierter frühmittelalterlicher Gedenkaufzeichnungen beschränken. Wenn man indessen bedenkt, dass der Sinn von Editionen seit jeher darin bestanden hat, einzigartiges Quellenmaterial besser zugänglich zu machen, so mag es sonderbar anmuten, dass seitens der Akademie keinerlei Bestrebungen erkennbar sind, ihre Editionen in digitaler Form zu präsentieren. Die Onlinepublikation würde mit Gegenüberstellung von Digitalisat und Transkription nicht nur helfen, die oft unübersichtliche Vielfalt an Schreiberhänden nachvollziehbar zu machen; sie würde auch eine jüngere Generation von Forschenden ansprechen, die sich zunehmend digitaler Methoden der Auswertung bedient. Ohne Beteiligung an der digitalen Transformation läuft die klassische Edition Gefahr, zur »l’art pour l’art« zu werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Hugener, Rezension von/compte rendu de: Jean-Loup Lemaitre (éd.), Les obituaires des collégiales du diocèse de Limoges et de Saint-Martin de Tulle, publiés sous la direction de Jacques Verger, Paris (Académie des inscriptions et belles-lettres) 2025, X–266 p., 24 pl. (Recueil des historiens de la France. Obituaires, Série in-8°, 32), ISBN 978-2-87754-721-5, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114282