Hervorgegangen ist der vorliegende Band aus der letzten von vier Tagungen, auf denen die Mitglieder eines größeren europäischen Forschungsprojektes die Bedeutung von Gemeinschaften im früheren Mittelalter untersucht haben. Dabei stand zuletzt die zentrale Frage auf dem Programm, in welcher Form solche Gemeinschaften gemeinsam handelten und im gemeinsamen Handeln ihre Gemeinschaften gestalteten. Auf eine rigide Definition des Gemeinschaftsbegriffs haben die Veranstalter von vornherein verzichtet. Dass ihnen damit der Untersuchungsgegenstand leicht abhandengekommen wäre, offenbart sich bei der Lektüre nach kurzer Zeit. Immer wieder fragt man sich – häufig gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren, inwieweit man in dem konkreten Fall überhaupt von Gemeinschaften sprechen kann und was diese Gemeinschaften längerfristig zusammenhielt, da sie an ihren Handlungen nur in Ansätzen zu erkennen sind. Aber gerade hier entfaltet der Band dann auch sein kritisches Potential und stellt immer wieder bisherige Annahmen in Frage.
Das gilt namentlich für den Beitrag von Hans-Werner Goetz, der nach einer Sichtung aller einschlägigen Belege die durch Eid begründeten oppositionellen Kleriker- und Laiengilden, die Otto Gerhard Oexle in der Merowinger- und Karolingerzeit wirken sah, ins Reich der Phantasie verbannt, da die Quellen bis auf einige wenige Ausnahmen nur ein punktuelles aufrührerisches Verhalten gegen kirchliche oder weltliche Autoritäten erkennen lassen und nie eine weitergehende Organisation der Gruppen sichtbar wird. Auch die beiden Beiträge über die bäuerlichen Gemeinschaften im Nordwesten Spaniens bzw. in Kastilien halten zwar grundsätzlich an deren Existenz fest, zeigen aber mit Blick auf deren Versammlungen (Igor Santos Salazar) und auf Gerichtsverfahren, an denen sie beteiligt waren (Iñaki Martín Viso), wie schwach diese Gemeinschaften institutionell und rechtlich ausgebildet waren. Nur in besonderen Situationen, beim Streit um den Zugang zu Gemeingütern (Wasser, Weiden) vor Gericht oder bei der Beglaubigung von Besitztransaktionen, traten sie in Erscheinung. Ähnliche Befunde präsentieren Cristina La Rocca und Gianmarco De Angelis, die die Rituale untersuchen, mit deren Hilfe das Mailänder Kloster Sant’Ambrogio in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts neuen Besitz auf dem Land rechtlich ergriff. Auch hier schufen die Rituale erst die bäuerlichen Gemeinschaften, denen so die Rechts-, Besitz- und Machtverhältnisse vor Augen geführt und übergestülpt wurden. Immerhin tauchten diese Gemeinschaften vereinzelt später noch vor Gericht als Zeugen auf. Auf seine Weise unterstreicht auch Luigi Provero für das karolingische Oberitalien die fehlende über den Moment hinausgehende Bindungskraft der bäuerlichen Kommunitäten, waren es doch vor allem verwandtschaftliche Beziehungen und Bindungen an den jeweiligen Herrn, die die Dorfbewohner in ihren Auseinandersetzungen mit den Herren um die rechtliche Freiheit oder die Frondienste vereinten. Ein schönes Beispiel für die wichtige Funktion ad hoc gebildeter, nur einem punktuellen Zweck verpflichteter Gemeinschaften fördert Philippe Depreux mit jenen Reisegruppen der späten Karolingerzeit zutage, die sich zusammentaten, um für die Ausstellung einer Urkunde an den Herrscherhof zu reisen, wo sie teils auch gemeinsam antichambrierten.
Als wenig gefestigt erwiesen sich lange Zeit auch die Priestergemeinschaften, die sich seit dem 8. Jahrhundert in den norditalienischen Bischofsstädten bildeten. So riss nach Marco Stoffella in Lucca die zarte Entwicklung Mitte des 8. Jahrhunderts erst einmal wieder ab, als der dortige Bischof den städtischen Klerus unmittelbar für seine Vorhaben mobilisierte. Und in Verona waren es im 10. Jahrhundert nicht die Kanoniker, sondern große Teile des städtischen Klerus, die sich wiederholt gegen den Anspruch Bischof Rathers stellten, das Kirchengut nach seinen Vorstellungen zu verteilen. Allerdings trugen die Auseinandersetzungen selbst, so Giacomo Vignodelli, zur Etablierung einer auch vermögensrechtlich geschiedenen Kanonikergemeinschaft bei.
Einige, teils auch schon genannte Beiträge verlangen in Zukunft genauer hinzuschauen. Sie widerlegen die beliebte Annahme, solche Gemeinschaften hätten stets in toto gehandelt. Selbst bei den gut auf dem Lande verankerten plebes in der Bretagne agierte häufig, so Wendy Davies, eine lokale Elite, die beanspruchte, für die Gemeinschaft zu handeln. Dass man gern auch im Namen der Gemeinschaft agierte, ohne deren ungeteilten Rückhalt zu besitzen, verdeutlicht Johanna Jebe an den Konflikten um den Abt Ratger von Fulda (802–817). Hier gab eine Gruppe von oppositionellen Mönchen vor, im Namen der gesamten Gemeinschaft zu agieren, nicht anders als der angegriffene Abt. Ähnliche Beobachtungen finden sich in dem Beitrag von Laurent Jégou, der zeigt, wie der Appell an die Einmütigkeit auf den konfliktreichen Konzilien um 1000 zu einem rein rhetorischen Instrument wurde, um die eigene Rechtsposition abzusichern.
Neue Akzente treten auch bei der Behandlung der Kommunitäten hervor, die aus der Koordination komplexer Arbeitsaufgaben erwuchsen. So waren die Sälzergemeinschaften des 10. und 11. Jahrhunderts in der Charente-Maritime nach Adrien Bayard für die Ausweitung der Salzgärten viel wichtiger als die Klöster, unter deren Herrschaft sie standen. In ähnlicher Weise zeigt Catarina Tente für das 9. und 10. Jahrhundert, wie die Siedlergemeinschaften in der portugiesischen Bergregion des Beira Alta einzelne Areale gemeinsam für spezielle Aufgaben wie die Weide oder die Jagd anlegten und zudem Palisaden, Friedhöfe und auch eine kleine Kirche zusammen errichteten.
Eher um Gefolgschaft als um Gemeinschaft geht es bei Alban Gautier, der anhand der angelsächsischen Heldendichtung nachweist, dass selbst bei Helden immer eine Gemeinschaft von Mitkriegern mitgedacht wurde, die ihn im Kampf unterstützen und umgekehrt auf seine Hilfe bauen können. Wenn Paolo Tomei die Entourage des Markgrafen von Lucca im 10. und 11. Jahrhundert von ihrem Selbstbewusstsein aus als »Hausgemeinschaft« beschreibt, so erinnert sie doch in vielerlei Hinsicht an eine Gefolgschaft. Vereinzelt handelte allerdings auch dieser hierarchisierte Personenkreis eigenständig wie nach dem Tod des Markgrafen in der Krise um die Nachfolge Ottos III., als er geschlossen für Arduin eintrat.
Alles in allem wird der Leser mit verschiedenen Typen von Gemeinschaften konfrontiert, die hier und da gemeinsam handelten, ohne dass man eine feste Beziehung zwischen diesem Handeln und den Gemeinschaftsformen erkennen kann. Deutlich wird zudem, wie sehr die Dominanz der urkundlichen Überlieferung das Bild des gemeinsamen Handelns prägt, das vor allem in der Bezeugung von Rechtsgeschäften besteht. Und doch liefert der Sammelband viele Impulse für die künftige Beschäftigung mit den einzelnen behandelten Gemeinschaften.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hermann Kamp, Rezension von/compte rendu de: Vito Loré, Geneviève Bührer-Thierry, Régine Le Jan (dir.), Agir en commun durant le haut Moyen Âge, Turnhout (Brepols) 2024, 332 p., 2 ill. en coul., 4 tab. en n/b, 2 cartes en n/b, 9 cartes en coul. (Collection Haut Moyen Âge, 49), ISBN 978-2-503-60689-7, DOI 10.1484/M.HAMA-EB.5.134435, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114285





