In ihrem schmalen Bändchen bricht Daniela Rando anhand zweier faszinierender Beispiele aus dem 13. bzw. 14. Jahrhundert eine Lanze für die mittelalterlichen Techniken der gedanklichen Durchdringung von Informationen und für die Präsentation von Wissen mit Hilfe von Visualisierungen – eine willkommene und hervorragend recherchierte Erinnerung an den reichen Fundus dieser Art Material in mittelalterlichen Handschriften.

Die ausgesprochen vielfältigen sieben Rotuli aus Vercelli, Randos erstes Beispiel, stammen wohl aus dem 13. Jahrhundert (vier von ihnen sind zwischen 1250 und 1275 zu datieren) und zeigen auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Inhalte: So nennt Rando eine mappa mundi (Weltkarte), Illustrationen der Geometrie des Euklid, eine kreisförmige Verbildlichung des Vaterunser sowie die Genealogie Christi aus dem Compendium historiae des Petrus von Poitiers und schließlich eine figura, die die Ecclesia mit dem menschlichen Körper vergleicht und dabei in einer einzigen komplexen Zusammenstellung »unterschiedliche Datensätze zu einem hochsynthetisch-›enzyklopädischen‹ Diagramm kombiniert« (25). Die Rotuli sind offenbar im Schulkontext entstanden und ihre Illustrationen erinnern etwa an in dieser Zeit generell modern werdende genealogische Zeichnungen, den etwas älteren Liber figurarum des Joachim von Fiore oder auch an frühe lokale Kartierungen von Besitz (wie etwa die Zwettler Bärenhaut aus dem frühen 14. Jahrhundert) – in ihrer Breite belegen sie »die Vielfältigkeit der ›Diagrammatik‹ im scholastischen Milieu« (25).

Das zweite Beispiel, die Figurenwelten des Opicinus de Canistris († ca. 1353), greift manche der gerade betrachteten Möglichkeiten wieder auf und verbildlicht die tiefere Bedeutung der Schöpfung, die der gelehrte Kleriker allegorisch aus Portulankarten und Kalendern herauslas. Opicinus stammte aus derselben Gegend wie die Rotuli, war aber eine gute Generation jünger und arbeitete vor allem an der Kurie in Avignon. Er hat uns umfangreiche Erklärungen seiner Arbeiten hinterlassen. Ausgelöst von einer visionären Erfahrung schuf er Handschriften, die (wie viele prophetisch-visionär vom Mainstream abweichende Schriften der Zeit) wenig bis nicht verbreitet in der päpstlichen Bibliothek erhalten blieben: In diesen Autographen kombinierte er Texte »mit anthropomorphen Karten und Diagrammen, Listen, Tabellen und Zeichnungen« (29). Es faszinierte Opicinus, schwer oder nicht Sichtbares sichtbar zu machen, und so zeichnete er beispielsweise die Umrisse der Mittelmeerküsten als männliche und weibliche Figuren nach, wobei sich einmal die Gesichter des männlichen Nordafrika und des weiblichen Südeuropa an der Straße von Gibraltar berühren. Mit den Portulankarten griff Opicinus auf ein neu entwickeltes Medium zurück – den nicht allein in diesem Zusammenhang wichtigen frühen genuesischen Kartographen Petrus Vesconte kann er in Avignon getroffen haben. Rando betont das Bemerkenswerte der allegorischen und moralischen Lesung der Karten, doch könnte man auch sagen, dass Opicinus den vierfachen Schriftsinn, nach dem die mappae mundi der Zeit (man denke an die Ebstorfer oder die Hereforder Weltkarten) gestaltet waren und gelesen werden mussten, in noch gesteigerter Weise nun auf die neuen, der physischen Natur der Geographie näheren Karten anwandte. Sogar gegenwartspolitisch konnten Opicinus’ allegorische Deutungen der Geographie werden, wenn er seinen Zufluchtsort Avignon entsprechend ausdeutet. »Mit Bild und Text versuchte Opicinus, Makrokosmos und Mikrokosmos, Geist und Körper, nicht zuletzt ›seinen‹ eigenen Körper, zu erforschen, um die Beziehungen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, irdischen und jenseitigen Realitäten, Innerlichkeit und Körperlichkeit zu erfassen« (59).

Ob es notwendig ist, für derartige Visualisierungen den neuen Begriff der Infografik einzuführen, ohne ihn wirklich von der ganz üblichen und nicht sonderlich trennscharfen Bezeichnung Diagramm abgrenzen zu können, bleibt fraglich. Die Quellenbegriffe können pictura, forma oder figura sein, wobei besonders letzteres dem griechischen diagramma gut entspricht. Auch mittelalterliche Karten (die in beiden Beispielen eine Rolle spielen) wurden von Zeitgenossen figura oder pictura benannt und modern schon zu Recht als Diagramme beschrieben – für Paulinus Minorita, den Zeitgenossen von Opicinus und Petrus Vesconte, ergänzten sie als picturae die scriptura. Aber wie immer man sie nennt, wir sollten, da mehr und mehr Handschriften gut online greifbar sind, in der Tat der Bedeutung von Visualisierungen komplexer Inhalte auch schon allein im Layout systematischer Beachtung schenken und uns mit »Spinnern« wie Opicinus de Canistris ernsthaft beschäftigen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Felicitas Schmieder, Rezension von/compte rendu de: Daniela Rando, Infografik als »tool for thinking« im Mittelalter, Göttingen (Wallstein) 2025, 66 S., 10 farb. Abb. (Das mittelalterliche Jahrtausend, 12), ISBN 978-3-8353-5800-3, DOI 10.5771/9783835387805, EUR 16,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114288