Bibliotheken haben seit jeher das Interesse der historischen Forschung geweckt. So nimmt es kaum wunder, dass gerade die Büchersammlung einer Abtei wie Clairvaux die einschlägigen Forscherkreise zu elektrisieren vermag. Die Bücher der Abtei gelangten nach der Französischen Revolution und der Aufhebung des Klosters mehrheitlich nach Troyes und werden heute in der Médiathèque Jacques-Chirac aufbewahrt. Doch einige der ehemals in Clairvaux liegenden Handschriften sind über verschiedene Kulturgut bewahrende Institutionen verteilt. Glücklicherweise blieb der 1472 während des Abbatiats des Pierre de Virey angefertigte Katalog erhalten, der die Basis für die Rekonstruktion der Sammlung bietet. Die ersten Ergebnisse konnten 1979, 1997 und 2021 publiziert werden. Ein vierter Band bietet nun die Fortsetzung über die Theologie hinaus. Neben zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des verantwortlichen IRHT konnten weitere namhafte Forscherinnen und Forscher für die Handschriftenbeschreibung gewonnen werden, sodass ein ansehnliches Tableau an Expertise zustande kam. Bearbeitet wurden die alten Signaturen R, S, T und V (bis V 54), welche die Themen Recht, Medizin, Grammatik, Logik, Rhetorik, Poesie, Philosophie und monastische Regeln umfassen. Somit wurden den Nutzern und Nutzerinnen insgesamt 147 Handschriften in einer Tiefenerschließung an die Hand gegeben.
Auf dem Gebiet des Rechts dominieren – wenig überraschend – die Werke des Corpus iuris canonici samt weiterer Dekretalensammlungen und zahlreicher Summen. Die meisten Handschriften stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, primäre Entstehungsregionen sind der französische Norden und Osten, insbesondere Paris. Unter diesen soll eine bemerkenswerte Handschrift herausgegriffen werden: Sie gehörte – bevor sie nach Clairvaux gelangte – einer Begine aus dem Haus in Cambrai, die 1319 die Konstitutionen Innozenz’ IV. besessen haben muss. Weniger stark vertreten ist – für eine Abtei nicht verwunderlich – das Römische Recht. Dass hier die Handschriften zum Corpus iuris civilis dominieren, mag ebenso wenig verwundern. Darunter lassen sich einige Codices aus Bologna ausmachen, ab den 1230er-Jahren auch aus Orléans. Mehrere Handschriften fallen ins Auge, die offenbar in Bologna geschrieben wurden, deren Ausmalung aber in Orléans oder andernorts in Frankreich vorgenommen wurde. Bei zwei Handschriften kann als gesichert gelten, dass sie die Arbeitsgrundlage eines Studenten der Rechtsschule von Orléans boten, stammen doch zahlreiche Glossen von Magistern aus der Generation des Jacques de Révigny sowie der vorangegangenen. Den Kunsthistoriker und die Kunsthistorikerin dürfte indes erfreuen, dass sich unter den beschriebenen Rechtshandschriften gleich mehrere nachweisen lassen, die von Jacopino da Reggio bzw. seiner Werkstatt illuminiert wurden.
Unter den medizinischen Handschriften fällt die hohe Anzahl an lateinischen Übersetzungen arabischer und persischer Werke des 12. und 13. Jahrhunderts auf. Auch wenn einige Inhalte über die Schule von Salerno vermittelt wurden, ist der Entstehungsprozess dieser Handschriften eher in Nordfrankreich – vor allem in Paris – zu verorten – was für medizinische, vorwiegend an Universitäten gelehrte Gegenstände auch nicht erstaunlich ist. Allerdings ist ebenso Montpellier, die aufstrebende Medizinschule des französischen Südens, hier vertreten.
Die Handschriften zur Grammatik entstanden in erster Linie im Norden Frankreichs, in der Champagne und Burgund zwischen der Mitte des 12. und dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts. Priscian war dabei der beliebteste Autor. Die Werke zur Logik stammen vom Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts. Ihr thematischer Zuschnitt offenbart deren Nutzung im Kontext der Universitätsstudien von Brüdern aus Clairvaux. So verwundert es kaum, dass einige von ihnen in Paris erworben wurden. Unter den Rubriken Rhetorik und Poesie fällt eine Handschrift aus dem 14. Jahrhundert ins Auge, die von der Forschung wohl noch nicht ausgewertet wurde. Sie enthält zisterziensische Musterbriefe aus der Diözese Boulogne, geschrieben von einer englischen Hand, und gibt darüber hinaus Aufschluss über die Visitationspraxis innerhalb des Zisterzienserordens.
Ebenfalls eine enge Verbindung zum universitären Studium zeigen die naturphilosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Manuskripte. Sie stammen zumeist aus Paris und aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Codex, der wahrscheinlich ebenfalls von einer englischen Hand geschrieben wurde, dürfte zisterziensischen Studenten aus dem böhmischen Nepomuk (Pomuk), einer Filiale von Ebrach, gedient haben. Ein anderer gehörte offenbar Pierre de Virey, der diesen 1451 noch als Mönch des Konvents von Maizières erwarb. Überhaupt sind von ihm, der auch für den Katalog von 1472 verantwortlich zeichnete, noch weitere Bücher im Bestand nachweisbar.
Die Statutentexte wurden in der Regel in Clairvaux selbst kopiert. Auch wenn der Schwerpunkt des erhaltenen Materials im 12. und 13. Jahrhundert liegt, findet sich hier auch auch einige spätmittelalterliche Handschriften.
Zusammenfassend kann der Bestand mit einigen interessanten Texten aufwarten, die bisher unter dem Radar der Mediävistik liefen und diese fortan inspirieren sollten: Drei Rechtshandschriften enthalten Glossen von Gelehrten der Rechtsschule von Orléans aus der zweiten Hälfte des 13. und vom Anfang des 14. Jahrhunderts, die Aufschluss über deren Kommentierung des Römischen Rechts geben. Des Weiteren verweisen die Beschreibungen auf einige Texte, die neue Erkenntnisse über den Orden der Zisterzienser generieren könnten. Die noch zu hebenden Schätze dürften vor allem die Klöster Cîteaux und Clairvaux im späten Mittelalter betreffen und in erster Linie die Themenkomplexe Memoria, Güterverwaltung und Prosopographie umfassen. Ansonsten finden sich die kleinen Trouvaillen, die typisch für Kataloge dieser Art sind: bisher unbekannte Kommentare zu einigen philosophischen Schriften oder unbekannte Übersetzungen, nebst vieler kleiner Texte, die für Spezialuntersuchungen gewinnbringend sein können, an dieser Stelle aber nicht eigens zu erwähnen sind.
Erschlossen werden können all diese Texte und noch vieles mehr über die Register, die nach Handschriften, Autoren und Werken, Initien, Personen und Orten sowie Exlibris sortiert sind. Sie runden ein in allen Bereichen vorbildliches Werk ab, das die Grundlage für zahlreiche weitere Forschungen bieten wird. Komplementär zu dieser Publikation sei an dieser Stelle auf die digitale Rekonstruktion der Bibliothek von Clairvaux verwiesen: https://www.bibliotheque-virtuelle-clairvaux.com.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thorsten Huthwelker, Rezension von/compte rendu de: Jean‑Pierre Rothschild, Caroline Heid, La bibliothèque de l’abbaye de Clairvaux du XIIe au XVIIIe siècle. Tome 2: Les manuscrits conservés. Quatrième partie. Droit, médecine, grammaire, logique, rhétorique, poésie, philosophie, coutumes monastiques: manuscrits des cotes R, S, T, V1–V54, Paris (CNRS Éditions) 2024, 422 p. (Documents, études et répertoires. Série »Histoire des bibliothèques médiévales«, 94), ISBN 978‑2‑271‑15158‑2, EUR 120,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114289





