Die Grandes Chroniques de France sind omnipräsent in der französischen Geschichtskultur zum Spätmittelalter. Aber auch in wissenschaftlichen Publikationen werden sie oft als Bild- und Stichwortlieferant verwendet. In beiden Fällen haben sie meist – mehr oder weniger explizit ausgedrückt – den Status einer »offiziellen« königlichen Chronik, die als »königliche Sicht« auf bestimmte Ereignisse und Personen in die Argumentationen eingebaut werden.

Zwischen dieser Präsenz der Grandes Chroniques und der Anzahl an Historikerinnen und Historikern, die seit dem 19. Jahrhundert die Arbeit auf sich genommen haben, sich in mühsamer Kleinstarbeit durch das unübersichtliche Dickicht der zahlreichen Handschriften, Textversionen und Textkombinationen zu kämpfen, besteht jedoch eine Diskrepanz. Antoine Brix gehört nun zu dieser illustren Reihe. Er bündelt im vorliegenden Werk Devenir l’histoire de France die Erkenntnisse, die Differenzierungen und die Relativierungen bezüglich der Grandes Chroniques aus jüngeren Beiträgen. Insbesondere lässt sich Antoine Brix von den jüngsten Erkenntnissen Bernard Guenées inspirieren, die dieser selbst nicht mehr publizieren konnte. Auf dieser Grundlage führt Antoine Brix eine minutiöse Analyse der zahlreichen Handschriften der Grandes Chroniques durch und untersucht »la fortune«, also den Erfolg und den Status der Grandes Chroniques im Spätmittelalter. Seine Resultate stellt er der modernen nationalistischen Überhöhung der Grandes Chroniques seit dem 19. Jahrhundert gegenüber, deren Spätfolgen bis heute die Rezeption prägen.

Das Resultat von Devenir l’histoire de France ist eine gründliche Absage an das, was Antoine Brix den »Mythos der Grandes Chroniques« nennt: die Gleichsetzung der französischen Geschichte mit den Grandes Chroniques. Diese entsteht, wenn die Grandes Chroniques als Bild- und Stichwortlieferanten aus einer quasi »offiziellen« Chronik der Könige Frankreichs in Argumentationen integriert werden. Sein Buch sei deshalb allen empfohlen, die in irgendeiner Weise beabsichtigen, die Grandes Chroniques in ihre Arbeiten, Ausstellungen oder weiteren geschichtskulturellen Produkte einzubauen und hierfür beispielsweise rasch die Editionen konsultieren möchten.

Durch seine umfangreichen kodikologischen Analysen kann Antoine Brix aufzeigen, dass das, was als Grandes Chroniques bezeichnet wird, letztlich eine Gruppe von Handschriften ist, in der eine sehr heterogene Texttradition enthalten ist. Diese Texttradition wurde von verschiedenen Akteuren geprägt, unter denen die »libraires de Paris« und ihre Kunden mit ihren je eigenen Interessen und Absichten bereits im 14. Jahrhundert eine prägende Rolle einnahmen. Die Rolle des Klosters Saint-Denis und die Nähe zum Königtum werden somit zu Aspekten, die je nach Handschrift und Texttradition unterschiedlich zu bewerten sind.

Die Texttradition der Grandes Chroniques verfügt über offene Ränder: Der Rezensent hat die Fortsetzungen und Drucklegungen der Grandes Chroniques im 15. und frühen 16. Jahrhundert untersucht. Dabei kam die Frage auf, ob diese überhaupt mit dem Begriff Grandes Chroniques bezeichnet werden können. Antoine Brix zeigt anschaulich, dass die Grenzen zwischen dem, was wir als Grandes Chroniques bezeichnen, und weiteren Kompilationstraditionen letztlich fließend sind. Die Entwicklungen im 14. und 15. Jahrhundert führten zu variantenreichen Texten und unterschiedlichen Textkombinationen, bedingt durch die vielfältigen Akteure und ihre Interessen.

Schließlich ist die Texttradition durch Parallelitäten geprägt. Verschiedene Versuche von Fortsetzungen, Neukombinationen und punktuellen Abänderungen und Weglassungen von Textpassagen formen das Bild, das die Analyse der Handschriften liefert. Die Entwicklung der Grandes Chroniques verlief nicht linear entlang von königlich abgesegneten Fortsetzungen, die schrittweise im Kloster Saint-Denis entstanden sind. Antoine Brix zeigt auf, dass es sich dabei stattdessen um einen autonomen Prozess handelte, der von vielen beeinflusst, aber von niemandem gesteuert wurde.

Ein kleiner Stolperstein stellt der bisweilen ausgeprägte Duktus des myth buster dar. Antoine Brix richtet sich, teilweise etwas pauschal, gegen »les médiévistes«, welche die Grandes Chroniques als Instrument einer »propagande« im Dienste einer »idéologie royale« darstellen würden. Um der geschichtskulturellen Gleichsetzung von Grandes Chroniques und Geschichte des französischen Königtums entgegenzuwirken, braucht es wohl eine mutige und pointierte Sprache.

In der Sache ist dies auch nicht falsch, aber im Einzelnen wenig differenziert. Denn das Kriterium, an dem Antoine Brix die Grandes Chroniques in einigen Passagen misst, ist ebenso ein Mythos: Es gibt keine widerspruchsfreie »Ideologie« und konsistente »Propaganda« im Spätmittelalter – in der Praxis gibt es das auch heute nicht. Die vielfältige und widersprüchliche Komplexität, die Brix für die Entwicklung der Grandes Chroniques aufzeigt, gilt letztlich auch für deren Kontext. Welche Sprache wählen wir, um die zeitgebundenen Legitimations- und Kommunikationsversuche im herrschaftsnahen und herrschaftsfernen Umfeld, die zeitlich aufeinanderfolgend oder zeitgleich entstanden sind, sich unterstützen oder widersprechen und stets auch mit den Interessen ihrer Autoren verbunden sind, zu benennen? Hier bleibt Antoine Brix am Ende Antworten schuldig, aber das war auch nicht der Hauptfokus seiner Arbeit.

Die Studie von Antoine Brix ist kühn und prägnant und regt dadurch zu weiteren Forschungen an. Sie ist zudem angenehm zu lesen; Antoine Brix weiß, seine Leserschaft an die Hand zu nehmen. Man darf auf seine weiteren Beiträge gespannt sein.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thomas Schwitter, Rezension von/compte rendu de: Antoine Brix, Devenir l’histoire de France. La fortune des Grandes Chroniques de France au Moyen Age, Paris (Éditions du CTHS) 2024, 407 p., ill. (CTHS Histoire, 70), ISBN 978-2-7355-0972-0, EUR 32,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114399