Im vorliegenden Sammelband stehen die 27 einleitenden Folia des Antiphonars aus León (Archivo de la Catedral de León, ms. 8, fol. 1‑27, Sigle: L8) im Zentrum der insgesamt sieben Beiträge und der anschließenden Edition.
Das Anliegen der vorliegenden interdisziplinären Aufsatzsammlung besteht darin, die fol. 1r–27v der Handschrift L8 unter der Prämisse zu untersuchen, dass diese als »porte d’entrée et la clef de lecture de ce codex« fungieren. Thomas Deswarte postuliert in der Einleitung, dass trotz mehrerer Studien, die im 19. und 20. Jahrhundert angefertigt wurden, diesen Folia mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse. Zum einen handelt es sich bei L8 um das älteste vollständig erhaltene Textzeugnis des hispanischen Ritus, zum anderen zeigen die Folia die Überarbeitungen, die im Laufe von ca. 200 Jahren am Codex vorgenommen wurden, und spiegeln so die Dynamiken in der Liturgie generell wider. In seinem eigenen kodikologischen Beitrag analysiert Deswarte die Biographie des Codex und arbeitet drei Phasen heraus. Die erste Phase datiert er zwischen 917 und 950. In dieser Zeit entstand der Hauptteil der Handschrift. In der zweiten Phase wurde der Band aus dem Kloster Cipriano del Condado in das von diesem abhängige Kloster Santiago de León verbracht. In einem dritten biographischen Abschnitt wurde der Codex zwischen 1062 und 1063 umgearbeitet und nach 1070 – wohl infolge eines Wasserschadens – umgebunden und neu organisiert. Datiert wird diese Phase mit Hilfe der komputistischen Folia, die dem Schreiber Arias zugeordnet werden.
Eva Castro Caridad konzentriert sich in ihrem philologischen Beitrag auf die eingefügten Prologe der fol. 2r–3v. In einer Einführung zur Textgattung stellt sie heraus, dass Prologe generell für das Verständnis der darauffolgenden Texte eine wichtige Funktion innehaben, denn sie informieren nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Entstehung und Autoren der Werke. Für liturgische Texte wurden die Prologe jedoch bisher nicht beachtet. Castro Caridad nimmt eine Einordnung der Handschrift in den karolingisch/ottonischen und hispanischen Kontext liturgischer Texte, die mit Prologen versehen sind, vor. Durch eine detaillierte Analyse der Prosa und Verskompositionen sowie deren Verortung im historischen Zusammenhang kann die Autorin im Vergleich mit weiteren Handschriften sowohl der Iberischen Halbinsel als auch nördlich der Pyrenäen feststellen, dass die Prologe mit Sicherheit in einem Skriptorium um León verfasst wurden.
Emma Hornby und Rebecca Maloy untersuchen in ihrem musikwissenschaftlichen Beitrag die annotierten Gesänge der Einführungsfolia. Es werden verschiedene Gesänge identifiziert: eine Sequenz (fol. 1v), verschiedene Gesänge des Offiziums (fol. 3v), Gesang und Gebet zum Festtag des heiligen Jakobus am 25. Juli (fol. 5r) sowie Gesänge der Eucharistie und des Offiziums (fol. 28r‑v).1 Durch die detaillierte Analyse der Neumen der einzelnen Stücke können die Autorinnen nachweisen, dass der Codex bis ins 11. Jahrhundert kontinuierlich genutzt wurde, die musikalische und liturgische Praxis jedoch nicht statisch, sondern dynamisch war. Dies lässt sich an den verschiedenen Ergänzungen in der Liturgie feststellen, wie etwa der Adaption des Festtags des heiligen Jakobus in der Mitte des 11. Jahrhunderts. Das Antiphonar von León, so lässt sich aus der Untersuchung der Neumen der Einführungsfolia schließen, ist ein Textzeuge sowohl für die Einzigartigkeit der liturgischen Praxis des hispanischen Ritus als auch für die Kontinuität der Liturgie im Alltag der Kirchen und Klöster.
Miguel C. Vivancos untersucht in seinem Beitrag den Kalender der einführenden Folia des Codex. Er betont, dass es sich bei dem vorliegenden Codex aus León um den einzigen vollständigen Textzeugen eines Liber Antiphonarium handelt. Vivancos arbeitet das Jahr 925 – das Todesjahr des heiligen Pelagius – als Terminus ante quem heraus und stellt fest, dass der Kalender bis auf wenige Ausnahmen von einer Hand verfasst wurde. Eine aufschlussreiche Tabelle (212–216: »Cuadro V«) liefert in einer Gegenüberstellung des Calendarium Legionense mit dem Antiphonar die jeweils übernommenen Heiligen mit ihrem Ursprung – sei es aus dem Orationale Visigoticum (8. Jahrhundert), dem Orationale aus Santo Domingo de Silos (9./10. Jahrhundert) oder dem Liber missarum aus Toledo, welches auf Bischof Julian von Toledo († 690) zurückgeht.
Immo Warntjes betont in seiner komputistischen Studie der fol. 6v–19v zunächst die Relevanz dieser Folia für die Datierung des Manuskripts. So zeugen die komputistischen Tabellen, der Kalender sowie die Rotae von drei verschiedenen Phasen der iberischen Komputistik: praekarolingisch, karolingisch und postkarolingisch. Im Rahmen seiner Studie erarbeitet Warntjes eine Erläuterung des Inhalts und der schriftlichen Ausarbeitung durch den/die Schreiber. Er weist darauf hin, dass es zwischen der Mitte des 9. und dem späten 10. Jahrhundert einen Umschwung gab und immer mehr komputistische Konzepte in Tabellenform gegossen wurden. Das Antiphonar von León mit einer Entstehungszeit im 10. Jahrhundert ist als früheste westgotische komputistische Sammlung ein Zeuge dieser »tabular revolution«.
Der Sammelband enthält Studien aus verschiedenen Historischen Grundwissenschaften und Disziplinen. Dadurch wird eine innovative und umfassende neue Sichtweise auf das Antiphonar aus León ermöglicht. Exemplarisch wurden hier fünf dieser Aufsätze genauer behandelt. Die Beiträge sind detailliert und klar strukturiert aufgebaut und liefern größtenteils neue Erkenntnisse zu dieser einzigartigen Handschrift, die zum einen ein wichtiges Zeugnis der Netzwerke im frühmittelalterlichen Europa ist und zum anderen durch Hinzufügungen und Adaptionen aufzeigt, wie weit verbreitet Antiphonarien im liturgischen Gebrauch waren. Teilweise ergänzen sich die Beiträge aufgrund der unterschiedlichen Expertisen, was den Band besonders aufschlussreich macht, da verschiedene relevante Themen aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. In fast allen Aufsätzen des Bandes werden dabei grundlegende und wichtige Informationen immer wieder hervorgehoben und wiederholt, was für die Leser und Leserinnen unter Umständen etwas schwerfällig wirken kann. Solche Wiederholungen sind in einem Sammelband nicht auszuschließen, es wäre aber unter Umständen vorteilhafter gewesen, insbesondere die wichtigen Eckdaten, die den Codex so einzigartig machen, gleich zu Beginn in der Einführung zu präsentieren, um diese dann nicht wiederholen zu müssen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Silke Engelhardt, Rezension von/compte rendu de: Thomas Deswarte (dir.), Les folios introductifs de l’Antiphonaire de León (Archivo de la Catedral de León, ms. 8, fol. 1–27). Étude et édition, Turnhout (Brepols) 2024, 500 p., 46 ill. en n/b, 44 ill. en coul., 30 tab. (Bibliologia, 66), ISBN 978-2-503-59391-3, DOI 10.1484/M.BIB-EB.5.133220, EUR 125,00., in: Francia-Recensio 2025/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.4.114400





