Dieser Sammelband fasst die Beiträge verschiedener Spezialisten zum Einsatz der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (Sipo-SD) in den von den Deutschen besetzen Ländern Frankreich, Belgien und Griechenland zusammen. Das Ziel der Herausgeber ist es, anhand ausgewählter Themenschwerpunkte mit dem noch immer weit verbreiteten Bild einer allgegenwärtigen und allmächtigen »Gestapo« aufzuräumen. Den Auftakt hierfür bildet die Einleitung von Patrice Arnaud. Sie umfasst sowohl einen gelungenen Überblick zum aktuellen Forschungsstand als auch eine kurze Bewertung der bisher einschlägigen Forschungsliteratur
Im ersten Kapitel untersucht der im Sommer dieses Jahres leider viel zu früh verstorbene Patrice Arnaud anhand der Prozessakten der französischen Militärjustiz, die zwischen 1946 und 1954 entstanden sind, die persönliche Verantwortung von Karl Oberg und Helmut Knochen beim Aufbau des deutschen Repressionsapparates in Frankreich. Den Wendepunkt bildete dabei die Ernennung Obergs zum Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) in Frankreich im Juni 1942. Von diesem Zeitpunkt an wurde ihm die Geheime Feldpolizei unterstellt, sodass die exekutive Polizeigewalt vom Militärbefehlshaber in Frankreich auf Oberg und alle ihm unterstellten Sipo-SD-Kommandos überging.
Ferner untersucht Arnaud das persönliche Verhältnis zwischen Knochen und Oberg, das durch Eifersüchteleien und Neid gekennzeichnet war, weil beide um die Gunst Himmlers in Berlin buhlten. Demnach hatten die einzelnen Abteilungsleiter in Paris wie Kurt Lischka oder Hans Kieffer große Handlungsspielräume und waren die eigentlichen Architekten des Repressionsapparates. Zwar weist Arnaud darauf hin, dass Oberg und Knochen im Rahmen des gegen sie geführten Strafprozesses ausschließlich in eigener Sache agierten. Dennoch entsteht beim Lesen latent der Eindruck, dass diese beiden Hauptakteure des NS-Verfolgungsapparates in Frankreich ihre Rolle im Geflecht der Kompetenzüberschneidungen der verschiedenen deutschen Dienststellen nur zu leicht minimieren konnten.
Der HSSPF in Paris war jedoch nicht die einzige Instanz, die in Frankreich auf deutscher Seite die Polizeigewalt innehatte. So gehörte die Region NordPas-de-Calais zum Befehlsbereich des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich (MBB) mit Dienstsitz in Brüssel. Als einer der besten Kenner der Materie zeichnet Laurent Thiery nach, wie verschieden sich die Strukturen der Sipo-SD im Befehlsbereich des MBB im Vergleich zu jenen beim Militärbefehlshaber in Frankreich entwickelt haben. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass beim MBB erst in der Schlussphase der deutschen Besatzung ein Höherer SS- und Polizeiführer eingesetzt wurde. Bis August 1944 behielten die Militärbehörden die Polizeigewalt und den Einsatz der Geheimen Feldpolizei in ihren Händen, was jedoch keineswegs die Zusammenarbeit mit der Sipo-SD ausschloss. Insbesondere die Bekämpfung des sehr aktiven kommunistischen Widerstands im nordfranzösischen Kohlebecken fiel in deren Ressort, wozu sie in Lille über eine eigene Dienststelle verfügte und eng mit der dortigen Oberfeldkommandantur zusammenarbeitete.
Dem Sonderstatus des Departements Moselle, das de facto vom Deutschen Reich annektiert wurde, widmet sich Cédric Neveu. Er arbeitet präzise die Entwicklungsstrukturen der Sipo-SD vor Ort heraus und legt mit diesem Aufsatz eine lesenswerte Synthese seines im Jahre 2012 erschienenen Buches »La Gestapo en Moselle« vor. Mit Anton Dunckern wurde bereits unmittelbar nach Abschluss des Waffenstillstandsvertrages im Juni 1940 ein überzeugter Nationalsozialist und enger Vertrauter Himmlers nach Metz entsandt. Ihm gelang es in kurzer Zeit im gesamten Departement personell gut ausgestatte Sipo-SD-Dienststellen einzurichten. In zwei Drittel der Fälle handelte es sich um Polizeibeamte, die bereits Ende der 1930er Jahre mit Dunckern beim Reichssicherheitshauptamt gemeinsam Karriere gemacht hatten. Infolge der guten personellen Ausstattung mit Spezialisten der Polizeiarbeit und überzeugten Nationalsozialisten gelang eine zügige Gleichschaltung des Departements, die besonders jene zu spüren bekamen, die sich dieser Politik widersetzten.
Die Situation in Belgien analysiert Robby Van Eetvelde anhand eines Vergleichs der Sipo-SD-Dienststellen in Antwerpen und Lüttich. Während es in der Region um Lüttich im wallonischen Landesteil bereits relativ früh eine organisierte Widerstandsbewegung gab, konnte die Sipo–SD in Antwerpen im flämischen Teil Belgiens auf eine gewisse Kollaborationsbereitschaft zählen. Im Wesentlichen unterscheiden sich diese beiden Dienststellen jedoch erst in der Endphase der deutschen Besatzung voneinander. Während die Dienststelle in Antwerpen angesichts der vorrückenden Alliierten nach Appeldorn in den Niederlanden verlegt wurde, ging ihr Pendant in Lüttich unter der Führung von Eduard Strauch zu blinder Vergeltung über, was schließlich in willkürlichen Erschießungen belgischer Widerstandskämpfer und der Deportation von 400 Zivilisten und Zivilistinnen gipfelte. In den 102 Fußnoten finden sich überwiegend Hinweise auf niederländische Publikationen. Obwohl der Aufsatz in sich gut strukturiert ist, hinterlässt der häufige Wechsel zwischen den Begriffen »Gestapo« und »Sipo-SD« beim Leser den Eindruck, dass es in Belgien außer den Sipo-SD-Dienststellen auch noch solche der Gestapo gegeben hätte.
Mit Fragen der Kollaboration, der Milice und ihr nahestehender Gruppierungen befassen sich die Kapitel 2 bis 4, die z. T. kürzer ausfallen als jene, die sich mit den Strukturen der Sipo-SD beschäftigen. So umfasst das Kapitel von Laurent Joly nur eine 7-seitige summarische Darstellung zum Einsatz der französischen Polizei bei den Pariser Judenrazzien, obwohl die Kapitelüberschrift »Entre collaboration d’État et collaborationisme« etwas anderes verspricht.
Pierre Clément untersucht für das Departement Rhône, wie sich im Verlauf der Jahre 1943 und 1944 die Zusammenarbeit zwischen dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lyon und der Milice entwickelte. Dabei bezieht er ihr nahestehende Kollaborationsgruppierungen wie den Parti populaire français (PPF) von Jacques Doriot oder den Mouvement national antiterroriste (MNAT) mit ein, auf deren Zuarbeit die deutsche Seite vor allem beim Einsatz französischer V-Leute angewiesen war. Clément diskutiert ferner die Frage nach einer Definition des Begriffs »milicien« und inwieweit dieser auch Mitglieder kollaborationistischer Gruppierungen einschließen sollte.
Philippe Leclerc untersucht den Einsatz französischer Hilfskräfte bei der deutschen Polizei anhand des Departements Ardennes, das anders als das in der unbesetzten Zone liegende Departement Rhône schon seit Beginn des Frankreichfeldzuges mit der Präsenz der Sipo-SD konfrontiert war. Es kam hinzu, dass dieses Departement durch seine Grenzlage zum Deutschen Reich besonders im Fokus der deutschen Germanisierungspolitik stand. Zwar griff die Sipo-SD auch im Departement Ardennes auf kollaborationistische Kreise zurück, jedoch mit geringem Erfolg, weil 90% der Bevölkerung bereits im Juli 1941 die vom Vichy-Regime betriebene Kollaborationspolitik ablehnten. Da keine Vergleichswerte zu anderen Departements in der besetzten Zone angegeben werden, ist für den Leser nur bedingt erkennbar, inwieweit sich das Departement Ardennes tatsächlich von anderen unterscheidet.
Die Situation in Griechenland beleuchten Vaois Kalogrias und Stratos Dordanas. Sie haben für ihre Untersuchung die bisher in der französischen Forschung kaum genutzten Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg zugrunde gelegt, mit deren Hilfe sie die Entwicklung des deutschen Polizeiapparates in Griechenland präzise nachzeichnen. Zunächst wurden im Juli 1941 im Befehlsbereich des Wehrmachtsbefehlshaber Südost, Wilhelm List – nicht Wilhelm von List wie fehlerhaft auf Seite 148 angegeben – verschiedene Gruppen der Geheimen Feldpolizei eingesetzt. Es folgten mit Hans von Doerhage und Walter Blume nacheinander zwei Höhere SS- und Polizeiführer, deren Hauptaufgabe die Endlösung der Judenfrage und die Partisanenbekämpfung in Griechenland mit allen Mitteln des Terrors war. Unterstützt wurden sie dabei von Angehörigen der Geheimen Feldpolizei, der 4. SS-Panzer-Grenadier-Division und des 18. Gebirgsjäger-Regiments. Dieser gut strukturierte Aufsatz kommt bei der Auswertung der strafrechtlichen Ermittlungen, die nach Kriegsende gegen die Akteure dieser Vernichtungspolitik eingeleitet wurden, zu einem sehr ernüchternden Ergebnis: Die Täter entwickelten auch nach 1945 keinerlei Unrechtsbewusstsein. Stattdessen hielten sie einen falschen Korpsgeist hoch und flüchteten sich in Schutzbehauptungen und falsche Sachverhalte, was vielfach zur Einstellung der Ermittlungen führte.
Mit diesem Sammelband räumen die Autoren nicht nur mit überkommenen Klischees der allmächtigen Gestapo-Agenten im Ledermantel auf, sondern verbannen auch die zahlreichen apologetischen Darstellungen hoher Wehrmachtsoffiziere zu ihren Handlungen während des Krieges in das Reich der Legende. Die Verfasser kommen aber auch zu dem Ergebnis, dass der deutsche Polizeiapparat in den von der Wehrmacht besetzten Ländern ohne die Unterstützung einheimischer Kollaborateure kaum hätte wirksam agieren können. Fast alle Beiträge beinhalten auch biografische Informationen zum Personal der verschiedenen Sipo-SD-Dienststellen, die mittels eines Personenverzeichnisses gut zu finden sind.
Kritisch anzumerken bleibt, dass statt des Kapitels zum Eichmann-Prozess in Jerusalem ein Kapitel zur Rolle des deutschen Repressionsapparates in Italien dieses Buch sich besser abgerundet hätte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Corinna von List, Rezension von/compte rendu de: Patrice Arnaud, Fabien Théofilakis (dir.), Gestapo et polices allemandes. France, Europe de l’Ouest, 1939–1945, Paris (CNRS Éditions) 2017, 277 p. (Seconde Guerre mondiale), ISBN 978-2-271-08945-8, EUR 25,00. , in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43153