Gute Überblicksdarstellungen sind eine hohe Kunst. Christian Baechler, Professor Emeritus an der Straßburger Universität, beherrscht sie, wie seine vorangegangenen Darstellungen über Wilhelm II., die Weimarer Republik oder Hitlers Krieg im Osten belegen.

Dieses Mal hat er sich einem nicht einfachen Thema gewidmet: Deutschland und den Deutschen im Ersten Weltkrieg. Bereits dieser Titel macht deutlich, dass es ihm sowohl um die politische als auch um die gesellschaftliche Entwicklung in den Jahren des Krieges geht. Die Operationen zu Lande als auch zur See behandelt er daher allenfalls am Rande. Dies ist verständlich, zumal die Bandbreite der Themen, denen er sich widmet, erstaunlich ist. Ausgehend von der »Julikrise« und dem Scheitern des Schlieffen-Plans beschreibt er in den folgenden acht Kapiteln den »Burgfrieden« (Kapitel II) und die damit verbundenen Herausforderungen (Kapitel III), das Verhältnis von Front und Heimatfront (Kapitel IV), die gesellschaftliche Entwicklung (Kapitel V), die Soldaten an der Front und in der Etappe (Kapitel VI), das Scheiten des Burgfriedens im Zeichen einer sich verschärfenden politischen und sozialen Krise (Kapitel VII), die militärische Niederlage (Kapitel VIII) sowie die Revolution und das Ende der Monarchie (Kapitel IX). Zum Schluss refektiert er ausführlich über das »Erbe« des Krieges und der Niederlage.

Doch nicht nur die in einzelne Unterabschnitte gegliederte Darstellung ist beeindruckend. Kaum weniger beeindruckend ist die große Quellennähe. Im Gegensatz zu vielen Gesamtdarstellungen, die in erster Linie die vorliegende Literatur synthetisieren, greift Baechler an vielen Stellen auf Quellen zurück. Ob es nun die Tagebücher Riezlers, der Briefwechsel zwischen dem bayerischen Gesandten in Berlin und dem bayerischen Ministerpräsidenten oder die Kriegsbriefe der Generäle Lynker, Plessen und Wild von Hohenborn sind – er kennt sie und ordnet sie immer zutreffend in den Kontext ein. Auch die Briefsammlungen eher unbekannter Autoren sind Baechler ebenso geläufg wie die einschlägigen, für eine moderne Sozialgeschichte wichtigen statistischen Daten des Kaiserreichs.

Besonders hervorzuheben ist zudem nicht nur der gute Schreibstil, sondern auch die unaufgeregte Form der Darstellung. Im Gegensatz zu manchen Kollegen liegt es ihm fern, durch überzogene Kritik an anderen Darstellungen die eigene zu überhöhen.

Was die Vorgeschichte des Kriegsausbruchs betrifft, so folgt Baechler dem langjährigen Trend der Forschung: Auch wenn alle Mächte eine Mitverantwortung zu tragen haben, lässt er keinen Zweifel daran, dass Bethmann Hollwegs Politik des kalkulierten Risikos und deren Scheitern die eigentliche Ursache der dann folgenden Katastrophe ist (S. 13–54). Auch wenn diese Deutung dem Rezensenten durchaus sympathisch ist, so hätte er sich für ein Handbuch allerdings doch eine intensivere Auseinandersetzung mit den Thesen von Christopher Clark gewünscht als nur eine Fußnote (S. 12, Anm. 2). Es wäre allerdings »beckmesserisch«, dieses »Manko« überzubewerten. Gleiches gilt für andere Passagen wie z. B. die Ausführungen über den Schlieffen-Plan, die nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen.

Die Stärken des Autors liegen jedoch ohnehin auf dem Feld der Innenpolitik im weitesten Sinne. Ob er nun die Mobilisierung der Intellektuellen für den Krieg, sprich die Kriegsziele, beschreibt oder die Lage an der Heimatfront bzw. das Leben der Soldaten an der Front – seine Darstellung und seine Analysen überzeugen. Besonders hervorzuheben ist dabei sein Einfühlungsvermögen in die handelnden Personen wie Kanzler Bethmann Hollweg (S. 132–136, 149–155, 378–385) oder auch die Frauen (S. 211–213, 248–268) bzw. die Entwicklung der Stimmung in der Heimat im Laufe des Jahres 1918 (S. 444–453). Der Kanzler erscheint dabei durchweg als ein »ehrlicher« Mann, bemüht, sich im Interesse möglicher Kompromisse alle Optionen offenzuhalten – oder zu lavieren, wie man allerdings auch pejorativ sagen könnte. Der Verfasser plädiert für ein gerechtes Bild – zu Recht, wie er in Anlehnung an den damaligen bayerischen Gesandten Graf Lerchenfeld darlegt: »Par plusieurs aspects de son caractère, la vision à long terme, l’absence de préjugé, Bethmann se distinguait de la plupart des hommes de la caste à laquelle il appartenait par sa postion et son éducation. Il n’était pas un Junker. [...] Bethmann a souvent voulu ce qui était juste, mais n’a pas imposé sa volonté.« (S. 385f.). Deutlich sind auch seine Ausführungen zum Verhältnis zwischen Front und Heimat. Dezidiert beschreibt er den Verfall der Stimmung in der Heimat im Sommer 1918, gleichermaßen dezidiert lehnt er aber die »Dolchstoßlegende« ab, deren Genese bereits während des Krieges er überzeugend beschreibt.

Dass diese »Legende« dann eine ungeheure Folgewirkung entfaltete, macht er in seinen Überlegungen über das »Erbe des Krieges und der Niederlage« noch einmal deutlich. Damit zusammenhängend thematisiert er die bereits während des Krieges entstandenen Mythen der »Frontkämpfergemeinschaft« bzw. der »Volksgemeinschaft«. Auch wenn es überzeugte Republikaner gegeben habe, die dagegen Front gemacht hätten: »À partir de 1929–1930, le discours nationaliste sur la guerre l’emporte de plus en plus avec l’exploitation de ces mythes par le parti nazi« (S. 542).

Diesem Urteil wird man zustimmen können. Es ist das Verdienst Christian Baechlers, den Weg dorthin durch Analyse der inneren Entwicklung während des Krieges ausführlich beschrieben zu haben. Für alle in Frankreich, die die Entwicklung jenseits des Rheins seit 1914 zu verstehen versuchen, ist dieses Buch daher eine unverzichtbare Lektüre.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Epkenhans, Rezension von/compte rendu de: Christian Baechler, L’Allemagne et les Allemands en guerre. 1914–1918, Paris (Hermann) 2016, 572 p. (Hermann histoire), ISBN 978-2-7056-9285-8, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43154