Kaum mehr zu überblicken ist die Literatur zu »memory« und »Zweiten Weltkrieg«. Diesem ohnehin großen Corpus fügen nun Manuel Bragança und Peter Tame (beide Queen’s University Belfast) einen weiteren Band hinzu, der sich zu geschichtspolitischen Intentionen bekennt. Zwar sei, so erläutern die Herausgeber eingangs, Erinnerung nationalstaatlich geprägt. Um jedoch europäische Solidarität und die Ausbildung eines homo europeanus zu befördern, halten sie es für notwendig, Wissen darüber zu vermitteln, wie der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg, den sie als »our common scar« (S. 11) adressieren, bis heute nationale Identitäten und emotionale Verfasstheiten präge. Konkret streben sie einen transdisziplinären Zugang zu den kulturellen Vermächtnissen der sieben, gemessen an Bevölkerungszahlen, größten europäischen Nationen an. Zu Spanien, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen sowie der Sowjetunion bzw. Russland versammeln sie in ihrem Band je drei Aufsätze, wovon stets der erste eine historische bzw. historiografegeschichtliche Einführung anbietet, die beiden weiteren dann kulturellen Repräsentationen gewidmet sind. Dabei steht die Populärkultur, vor allem der Film, im Vordergrund, doch kommen auch Gattungen wie die Poesie zur Sprache. Von den Beitragenden haben fast drei Viertel ihre akademische Heimat im englischsprachigen Raum, nur sechs kommen aus Spanien, Polen oder Finnland.

Wonach die sieben Länderkapitel sortiert sind, erschließt sich nicht recht, denn in der gewählten Reihenfolge bildet sich weder eine Chronologie im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg ab, noch folgt die Reihenfolge zum Beispiel den Größenverhältnissen. Eingerahmt sind diese 21 Beiträge durch zwei Texte von Richard Overy, der die Erinnerungskulturen, wie sie sich nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ausgeprägt haben, vergleicht, sowie von Jay Winter, der sich den memory regimes in West- und Osteuropa sowie im außereuropäischen Raum zuwendet und dabei vor allem Fragen nach der Existenz (oder Nichtexistenz) von »Martyriologien« adressiert. Solange entsprechende Narrative im Osten Europas verbreitet seien, aber nicht im Westen, könne es, so die Schlussfolgerung von Winter, keine gemeinsame europäische Erinnerung geben.

Angesichts der Fülle der Beiträge sollen hier vor allem die historiografegeschichtlichen Einführungen näher beleuchtet werden, weil ihnen im Konzept der Herausgeber die Aufgabe zufällt, für jene Orientierung bereit zu halten, die keine ausgewiesenen Länderexpertinnen und -experten sind. Die gewählten Zugänge sind dabei durchaus unterschiedlich. Vielfach stehen prägende Narrative im Mittelpunkt. So beklagt Pablo Sánchez León für Spanien, dass der Bürgerkrieg auch in der Fachwissenschaft zum Teil immer noch gemäß einer Maxime »Kollektive Fehler, gleiche Verantwortung« behandelt werde, was den Blick auf reale Taten konkreter Individuen verstelle. Daniel Travers und Paul Ward nehmen das auf Winston Churchill zurückgehende Sprechen vom Zweiten Weltkrieg als »People’s War« zum Ausgangspunkt, um die Konstruktionen einer geeinten Nation, die geschlossen gegen die NS-Bedrohung zusammengestanden habe, als Mythos zu dekonstruieren. Dieser habe nur auf Kosten von regionalen Erinnerungen, unter anderem aus den verschiedenen Gebieten des Empire, bis in die jüngste Vergangenheit hinein überdauern können. Formen des Schweigens thematisiert auch Kirrily Freeman, die die (fehlende) Auseinandersetzung in der Stadt Vichy mit ihrer Vergangenheit adressiert, um – so das Anliegen – dem »Vichy-Syndrom« am gleichnamigen historischen Ort nachzugehen. Ein Indiz dafür sieht sie etwa in der Forderung des Bürgermeisters an die Académie française, »Vichy« nur als Namen eines herausragenden Kurortes zu verwenden, nicht jedoch für das gleichnamige Regime (S. 144). Wenn mit »Vichy-Syndrom« allerdings ein vermeintliches Nichtsprechen über ein dauerpräsentes Thema gemeint ist, dann hätte man sich dieses für den konkreten Ort präziser analysiert gewünscht, wozu auch eine stärkere Kontextualisierung des »störrische[n] Schweigen[s]« (ibid.) gehört, das die Verfasserin der Stadtgesellschaft attestiert.

Erstaunlich ist, dass die Einführung zu Deutschland von Harold J. Goldberg stammt, der vor allem mit militärhistorischen Arbeiten zum Pazifkkrieg hervorgetreten ist. Für einen einführenden Beitrag nimmt er sich eines eher speziellen Aspekts an: Er wendet sich der Erinnerung an die Landung der Alliierten in der Normandie zu und argumentiert, dass bei den Feierlichkeiten seit den späten 1980er Jahren die Thematisierung der deutsch-französischen Freundschaft und der europäischen Einigung sukzessive auf Kosten des eigentlichen Siegs der Alliierten in den Vordergrund getreten sei.

Stärker dem Anliegen der Herausgeber wird Andrzej Paczkowski gerecht, der die Zerklüftungen des kulturellen Gedächtnisses in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg in Polen beschreibt. Auf der Basis von Meinungsumfragen analysiert er vorherrschende Selbstbilder und verweist unter anderem darauf, dass auch in den letzten Jahren fast drei Viertel der Befragten angaben, stolz zu sein, weil in ihren Augen die überwiegende Mehrheit der polnischen Bevölkerung in den Jahren des Zweiten Weltkriegs nicht nur versucht habe, unter außerordentlich schwierigen und repressiven Bedingungen zu überleben, sondern auch aktiv die Besatzer zu bekämpfen (was er mit den konkreten Zahlen der Angehörigen des Widerstandes kontrastiert). In einem zweiten Teil verbindet der Verfasser dann diese Befunde mit einer Diskussion aktueller geschichtspolitischer Initiativen. Im Beitrag zu Russland von Markku Kangaspuro stehen einmal mehr die Feierlichkeiten zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Mittelpunkt des Interesses und konkret die eigentlich schon gut bekannten Narrative des Großen Vaterländischen Kriegs sowie seine Aktualisierungen im heutigen Russland.

People’s War« in Großbritannien oder zu Konstruktionsmechanismen bei Patrick Modiano (Peter Tames). Anderes dagegen ist nicht neu, wie die Beobachtung, dass mit wachsendem zeitlichen Abstand eine zunehmende Differenzierung zwischen »Nazis« und »Deutschen« im britischen Film eingesetzt habe (Robert Murphy). Im Kern steht jedoch die Frage: Was hält den Band als solchen zusammen? Inhaltlich ist der Bogen weit gespannt, ohne dass eine (oder mehrere) zentrale forschungsleitende Fragestellung(en) wirklich erkennbar wären. Dies verweist die Rezensentin zurück auf die einführenden Überlegungen der Herausgeber und ihre geschichtspolitische Intention, über die »gemeinsame Wunde« des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Thematisieren die Beiträge »Wunden«? »Katyń« mag, zumal im nationalpolnischen Milieu als »Wunde« verstanden werden (Urszula Jarecka) – aber »Bitburg« (Harold J.Goldberg)? Daran darf man Zweifel haben. Ohne Zweifel verbanden sich mit dem Zweiten Weltkrieg und den in deutschem Namen begangenen Massenverbrechen Verletzungen. Bedenkt man aber, dass heute junge Menschen in die Universitäten strömen, die fünfzig Jahre nach Kriegsende geboren sind, dann könnte es sich analytisch als ertragreicher erweisen, ein Sprechen über »Wunden« zu kontextualisieren (auch generationell) und zu historisieren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Tatjana Tönsmeyer, Rezension von/compte rendu de: Manuel Bragança, Peter Tame (ed.), The Long Aftermath. Cultural Legacies of Europe at War, 1936–2016, New York, Oxford (Berghahn) 2016, XVI–388 p., 4 ill. (Studies in Contemporary European History, 17), ISBN 978-1-78238-153-2, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43155