Der vorliegende Sammelband ist aus der Tagung »Ciel partagé/Geteilter Himmel – Mémoire commune?« im Dezember 2014 zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer hervorgegangen. Der Band widmet sich der Frage nach der Erinnerung an die Berliner Mauer sowie an ihren Fall im November 1989 als ein gemeinsames deutsches, europäisches und weltweites Erbe. Er fragt nach den Ausdrucksformen der mit der Mauer verbundenen Emotionen seit ihrem Bau im Jahr 1961 bis zum heutigen Tage und wie diese kanalisiert und instrumentalisiert wurden, aber auch wie sie sich in den unterschiedlichen Erinnerungsformen wiederspiegeln. Die 16 Beiträge, analysieren hierzu die Geschichte und die Wahrnehmung der Mauer aus einer politischen und ideologischen, sozialen und kulturellen Perspektive, wodurch insbesondere die Vielschichtigkeit der Berliner Mauer als historische Quelle verdeutlicht wird.
Die Beiträge des Sammelbandes sind in drei Teile gegliedert. Der erste Teil ist dem historischen Kontext der Mauer und ihrer Rolle im Systemkonflikt des Kalten Krieges gewidmet. Ulrich Pfeil beleuchtet hierzu die Vorgeschichte der Mauer und sieht ihren Bau 1961 als Ausdruck einer systemischen Krise der DDR während der 1950er Jahre. Bernard Ludwig analysiert die Verwendung der Mauer in der Propaganda während des Kalten Krieges. Er zeigt, dass die Mauer schließlich nicht nur für die Teilung Deutschlands stand, sondern zu einem Symbol für den grundlegenden Konflikt zwischen den zwei konkurrierenden Systemen wurde. Corine Defrance geht in ihrem Beitrag auf die Mauer als Symbol für Gewalt ein, dabei zeichnet sie die verschiedenen Ebenen der Gewalt nach, die während und nach der Errichtung der Mauer an der Grenze ausgeübt wurde. Sie unterscheidet dabei zwischen materiellen, physischen und emotionalen Formen der Gewalt. Jérôme Vaillant diskutiert die politischen und sozialen Hintergründe des Untergangs der DDR. Hierbei betont er die Entkoppelung der DDR Führung von der Ostdeutschen Bevölkerung und deren Rolle beim Sturz des Regimes. Andreas Wilkens geht der Frage nach den Konsequenzen des Falls der Mauer sowie des Niedergangs der DDR für Deutschland und die internationale Gemeinschaft nach. Dabei erarbeitet er die diplomatischen Auseinandersetzungen und den Umgang mit der plötzlich aufkommenden und brisanten Frage um die Wiedervereinigung Deutschlands.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit verschiedenen Ebenen und Formen der Erinnerung an die Mauer sowie mit der Mauer als Erinnerungsort, dabei wird zeitlich ein Schwerpunkt auf die Erinnerung nach ihrem Fall gelegt. Axel Klausmeier und Gerhard Sälter stellen die Gedenkstätte Bernauer Straße und deren Konzept der Erinnerung dar. Die Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands soll hier dem Besucher »mit ihren sozialen Konsequenzen für Gesamtdeutschland, der Ostdeutschen Gesellschaft sowie auf der lokalen und individuellen Ebenen« (S. 141) nähergebracht werden. Marie Müller-Zetzsche erörtert den Umgang mit der Mauer in Deutschen und Französischen Schulbüchern in den Fächern Geschichte und Deutsch (in Frankreich) ab dem Jahr 1990. Dabei zeigt sie, in welchem Kontext die Berliner Mauer im Unterricht thematisiert wird und welche der gängigen Interpretationen den Schülern präsentiert werden. Anna von Arnim-Rosenthal analysiert anhand des Projekts »chronik-der-mauer.de« die Möglichkeiten einer virtuellen Erinnerungskultur an die Mauer. Sie stellt fest, dass das besondere Potential der digitalen Formen der Erinnerung zum einen darin liegt, dass sie einen autodidaktischen, individuellen und interaktiven Charakter haben und zum anderen die Vielfalt der Quellen demonstrieren können. Nach ihrem Fall wurden Teile der Mauer weltweit als Symbol der Freiheit verteilt. Ronny Heidenreich zeigt, wie diese Mauerstücke an den jeweiligen Orten wieder in einen neuen Kontext gesetzt werden müssen, um dem Betrachter eine Interpretation zu ermöglichen. Dadurch verdeutlicht er, dass die Berliner Mauer über die deutschen Grenzen hinaus als Kulturgut wahrgenommen wird und unterstreicht überdies die Pluralität der Erinnerungen und Interpretationen die weltweit mit ihr in Verbindung stehen.
Im dritten Teil wird anhand ausgewählter Beispiele die Rolle der Mauer in der Kunst, dargestellt. Hierzu widmen sich die Beiträge unterschiedlichen Darstellungsformaten und analysieren, inwiefern die Mauer zugleich Kunstobjekt als auch Rezeptionsfläche künstlerischer Darstellung ist und welche Aussagen durch sie transportiert werden. Nicole Colin verweist darauf, dass durch den Fall der Mauer nicht nur die DDR niedergegangen ist, sondern in gewisser Weise auch das Westberlin des Kalten Krieges mit seiner ganz eigenen Kunstszene, die sich im »Schatten der Mauer« und durch die spezielle Situation der »Splendid Isolation« (S. 197) entwickelt hatte. Diane Barbe analysiert filmische Darstellungen der Mauer und die dadurch transportierten Positionen im Diskurs über die Teilung Berlins und Deutschlands. Jean-Louis Georget geht auf die Bedeutung der Fotografie als historische Quelle über die Mauer ein und zeigt ihre Verwendung in den Diskursen in Ost- und Westdeutschland, aber auch auf der internationalen Ebene. Élise Petit zeigt die verschiedenen Formen, in denen die Mauer auf beiden Seiten besungen wurde. Dabei beobachtet sie, dass weder der Bau noch ihr Fall im deutschen Liedgut aus der Zeit Erwähnung finden. Daniel Argelès analysiert anhand des Werks und der Biografie des Autors Klaus Schlesinger, wie die Mauer und das Grenzgebiet zu einem gemeinsamen Erfahrungsraum zwischen Ost- und Westdeutschland wurden. Abschließend thematisiert Lutz Henke die Mauerkunst als eigene Form der Streetart sowie den Aufbau der East Side Gallery. Dabei betont er die Funktion, welche die Mauerkunst im Bedeutungswandel einnimmt, den die Berliner Mauer seit ihrem Fall im November 1989 durchlief, und von einem Symbol der Teilung zu einem Zeichen der Freiheit und Einheit wurde.
Durch den interdisziplinären Ansatz des Sammelbandes wird in den Beiträgen eindrucksvoll die Vielfältigkeit der Erinnerungsformen sowie die emotionale, symbolische und politische Aussagekraft der Berliner Mauer dargestellt und analysiert. Der Band verbindet daher in gewinnbringender Weise durch seine multiperspektivische und transnationale Sichtweise die Geschichte der Emotionen mit der Erinnerungsgeschichte. Denn er verdeutlicht, dass die Berliner Mauer und die Erinnerung daran nicht nur Teil der deutschen Geschichte und des deutschen kollektiven Gedächtnisses sind, sondern dass sie bereits seit ihrem Bau im Jahr 1961 über die deutschen und europäischen Grenzen hinaus in die verschiedenen Gesellschaften hineinwirkte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Agnès-Sophie Vollmer, Rezension von/compte rendu de: Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf (dir.), Le Mur de Berlin. Histoire, mémoires, représentations, Bruxelles (Peter Lang Edition) 2016, 323 p. (L’Allemagne dans les relations internationales/Deutschland in den internationalen Beziehungen, 10), ISBN 978-2-8076-0141-3, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43158