Im Winter 2016/17 versammelte die Fondation Charles de Gaulle einschlägig arbeitende Historikerinnen und Historiker (unter anderen Robert Frank, Jenny Rafik-Grenouilleau, Georges-Henri Soutou und Maurice Vaïsse), ehemalige und aktive Militärs, Diplomaten, Politiker und führende Vertreter der Rüstungsindustrie zu drei Seminaren, in denen über das Erbe von Charles de Gaulle im Bereich der Verteidigung und seine Bedeutung für das gegenwärtige Verteidigungssystem Frankreichs diskutiert wurde. Eine Publikation der Akten dieser Seminare ist in Vorbereitung. Vorab hat Frédéric Fogacci, der Forschungsdirektor der Fondation, aber schon eine systematisierte Synthese der Beiträge publiziert, die dazu beitragen will, die Herausforderungen besser zu verstehen, vor denen die französische Verteidigung gegenwärtig steht.

Zur Militärdoktrin de Gaulles und ihrer Entwicklung bietet der Band dem Spezialisten nichts Neues. Es ehrt die Fondation aber, dass sie nicht der Versuchung erlegen ist, am Mythos de Gaulle weiter zu stricken. Zu Recht werden der fundamentale Pragmatismus des Militärexperten, Generals und späteren Staatspräsidenten und die beständige Evolution seines strategischen Denkens betont. Es sind nur wenige Prinzipien, die sich als Konstanten ausmachen lassen: der Primat der Politik und damit verbunden die Notwendigkeit einer möglichst direkten und dadurch fexiblen Kommandostruktur, die Indienstnahme der neuesten Technologien und die prospektive Förderung ihrer Entwicklung, das Beharren auf absoluter Entscheidungsfreiheit der demokratisch legitimierten Führung und damit der Unabhängigkeit der nationalen Verteidigung. Die force de frappe und eine effektive Koordinierung aller Akteure im Bereich der Verteidigung sollten es Frankreich ermöglichen, »oberhalb seiner Gewichtsklasse zu boxen«, wie es Philippe Errera, Generaldirektor im Verteidigungsministerium, formuliert (S. 168).

An diesen Grundsätzen haben die Nachfolger de Gaulles unabhängig von ihrer parteipolitischen und ideologischen Orientierung festgehalten. Der Band bietet knappe Überblicke über die Entwicklungen in den Bereichen der Struktur des Verteidigungssystems, des Verhältnisses zur NATO, der weltweiten Präsenz französischer Truppen, der Rüstungsindustrie und der militärischen Aufklärung. Dabei wird deutlich, dass die 2009 vollzogene Rückkehr Frankreichs in die Kommandostruktur der NATO nicht als ein Bruch mit der gaullistischen Doktrin gesehen werden muss. De Gaulle hatte den Austritt 1966 auch deswegen vollzogen, weil ihm eine stärkere Mitwirkung an den Entscheidungen des Bündnisses verwehrt worden war. Die Schaffung eines Transformationskommandos unter französischer Leitung und der Verzicht auf eine Integration der force de frappe als Bedingungen für die Rückkehr erlauben es den Autoren, die Kontinuität der Entscheidungen von 1966 und 2009 zu betonen.

Das Erbe de Gaulles hinsichtlich eines »Europas der Verteidigung« bezeichnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminare als »komplex«: »Il s’agit de distinguer l’attachement à la souveraineté nationale et la volonté de bâtir une Europe-puissance qui œuvrerait au dépassement des rivalités, mais également de faire de la défense le vecteur d’une Europe véritablement ,européenne‘, libérée autant que possible de la tutelle, voire de l’ingérence, américaine« (S. 96). Dass das Scheitern einer europäischen Verteidigung nicht zuletzt auf die innere Widersprüchlichkeit zwischen der Vision einer europäischen Macht und dem Beharren auf nationalstaatlicher Souveränität zurückzuführen ist, kommt ihnen nicht in den Sinn. Sie begnügen sich damit, die allzu enge NATO-Verbundenheit der Partner dafür verantwortlich zu machen. Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft heißt es nur etwas nebulös, dass ein Teil des gaullistischen Erbes »vielleicht« in der Idee besteht, »que la question d’une Europe de la défense se posera quand se posera celle d’une Europe politique, la défense étant, par défnition, l’instrument d’une souveraineté politique des États« (S. 99). Man darf gespannt sein, in welchem Maße der Appell von Präsident Macron zur Schaffung einer europäischen Verteidigung die Debatte unter Gaullisten und verteidigungspolitischem Establishment, die hier nur sehr verdeckt anklingt, intensivieren wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Fogacci in seiner Zusammenfassung das Zögern der 27 EU-Partner Frankreichs beklagt, Souveränität im Bereich der Verteidigung abzugeben (S. 107). Die Runde sieht aber gute Chancen für eine relance des Verteidigungsprojekts: Die Herausforderungen durch die aggressive Politik Russlands und die Infragestellung der bisherigen strategischen Linie der USA durch Präsident Trump haben dafür einen Rahmen geschaffen, der so günstig ist wie selten zuvor. Allerdings zwingt der Brexit dazu, das Europa der Verteidigung noch einmal neu zu denken: Man kann die Kooperation der beiden europäischen Atommächte nicht weiterhin einfach als seinen Kern betrachten; vielmehr wird es darauf ankommen, mit dem Vereinigten Königreich »ein neues Gleichgewicht« auszuhandeln (S. 108).

Insgesamt werden die Vorschläge für die zukünftige Entwicklung des französischen Verteidigungssystems, die der Band bietet, nicht allzu konkret. Das gilt auch im Hinblick auf die Notwendigkeit besserer Abstimmung zwischen den Ministerien und stärkerer internationaler Kooperation angesichts der Herausforderungen durch die technologische Entwicklung. Die Zusammenfassung der Debatten der drei Seminare bietet aber Denkanstöße für alle, die in der einen oder anderen Weise mit der französischen Verteidigung befasst sind. Das ist in der gegenwärtigen Zeit allgemeiner Verunsicherung kein geringes Verdienst.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wilfried Loth, Rezension von/compte rendu de: Frédéric Fogacci (dir.), De Gaulle et la défense de la France, d’hier à aujourd’hui, Paris (Nouveau Monde éditions) 2017, 222 S., ISBN 978-2-36942-537-3, EUR 9,90., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43162