»Deutschland zwischen Ausstrahlung und Zurückhaltung«, so lässt sich der Titel einer Festschrift übersetzen, die Kolleginnen und Kollegen, Doktorandinnen und Doktoranden sowie Freunde dem Liller Germanisten Jérôme Vaillant 2015 zu seinem 70. Geburtstag dargereicht haben. Im Kern geht es den 22 Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Frankreich um eine Analyse der zwischen »rayonnement« und »retenue« oszillierenden westdeutschen Außenpolitik im internationalen System seit 1945. In insgesamt fünf Kapiteln schlägt der Band den Bogen von den auswärtigen Angelegenheiten der Bonner bzw. Berliner Republik im Zeichen von »contraintes, précaution, émancipation« (S. 21) über das »modèle de la Zivilmacht« (S. 59) zu zentralen außenpolitischen Teilbereichen wie der Europa-, Außenwirtschafts- und Kulturpolitik bis hin zur »politique mémorielle« der »Deux Allemagnes« (S. 231). Nicht ganz zu überzeugen vermag der von der Herausgeberin und den Herausgebern gewählte systematische, statt eines chronologischen Zugangs. Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Bezug auf Ausstrahlung und Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik erschließen sich der Leserschaft so nur schwer.
Als Urheber der Politik der Zurückhaltung würdigt Gilbert Merlio in einem historischen Rückblick auf das Deutsche Kaiserreich Reichskanzler Otto von Bismarck, der mit diplomatischen Mitteln »contraire à l’esprit du temps« eine kontinentale Stabilisierung angestrebt habe (S. 64). Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs knüpfte die Bundesrepublik seit 1949 an den Kurs des Eisernen Kanzlers wieder an. Dass der aktuelle Chef des Bundeskanzleramtes, Peter Altmaier, nicht zögert, Bismarcks »patronage« für die Außenpolitik der Bundesregierung Angela Merkels anzurufen, empfndet Merlio als »plaisant« (S. 72).
Maßgeblich bestimmt wurde das Bild von der außenpolitischen Zurückhaltung Westdeutschlands durch die vom Grundgesetz und der geographischen Lage als »État placé à la ligne de front de la liberté« (Vaillant, S. 278) vorgegebene Reserviertheit gegenüber militärischen Konfiktlösungen. Wie Hélène Miard-Delacroix in ihrem Beitrag über die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1961–1990 nachweist, äußerte sich diese Zurückhaltung überdies in der engen Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern und einem »ancrage systématique dans le multilateralisme« (S. 43). Dass diese Marschroute durchaus mit dem Anspruch auf Leadership vereinbar sein konnte, verdeutlicht Anne-Lise Barrières Untersuchung über die Entscheidung Helmut Schmidts zum Europäischen Währungssystem (S. 118). Die sich darin widerspiegelnde »véritable dialectique entre rayonnement et retenue« (Élise Lanoë, S. 210) lässt sich auch in der auswärtigen Kultur- und in der Außenwirtschaftspolitik der Bonner Republik erkennen, die von der Tendenz zu einer »affrmation de soi« (ibid.) einerseits und dem Aufstieg Deutschlands zu einer der wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt andererseits geprägt waren.
Entgegen einer von etlichen in- wie ausländischen Beobachtern gehegten Furcht hat das wiedervereinigte Deutschland den Kurs der Zurückhaltung nach 1990 nicht verlassen. Sämtliche Regierungen ließen sich seither von der Überzeugung leiten, dass die Bundesrepublik wie einst das Bismarckreich trotz ihrer Größe zu klein sei, »pour jouer un rôle autonome sur la scène mondiale« (Stephan Martens, S. 56). Weder hat sie die Mittel noch den Willen, sich zu einer »puissance militaire européenne«, geschweige zu einer »puissance mondiale« zu erheben (S. 57). Ganz in der Kontinuität der alten Bonner Republik stehend, legt auch das souverän gewordene Deutschland gemäß dem überzeugenden Befund von Reiner Marcowitz größten Wert darauf, »d’éviter en toutes circonstances de faire cavalier seul« (S. 103). Wünschenswert erscheint Marcowitz aber, dass Deutschland sich außenpolitisch stärker engagiert und keine »abstention militaire à tout prix« betreibt (S. 104). Da er sich der Gefahr allzuschnell wieder auftauchender »ressentiments germanophobes« voll bewusst ist, rät Marcowitz der Bundesrepublik, »de garder un équilibre sain entre l’ancienne politique de retenu et un nouvel engagement internationale de l’Allemagne afn de maintenir son rayonnement au sein de l’UE, de l’OTAN et des Nations unies« (S. 105).
Die Reden von Bundespräsident Joachim Gauck, Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 zur Debatte über die Legitimierung von Auslandsinterventionen können laut Marcel Tambarin durchaus so gelesen werden, dass bei der politischen Führung des Landes die Empfehlung von Marcowitz bereits wirkt, »qu’on ne peut rester sans rien faire quand on a les moyens d’intervenir« (S. 94). An der Richtschnur der »retenue« und des »esprit de responsabilité« ändert sich nach Meinung von Jérôme Vaillant indes nichts (S. 281) – im Gegenteil. Mit der Migrationspolitik trachtet die Bundesrepublik seines Erachtens sogar danach, der Zurückhaltung »une nouvelle dimension« zu geben (S. 282). Denn Berlin wisse nur zu gut, so meint der Jubilar mit gutem Grund, »qu’à trop s’affrmer sur le devant de la scène ses voisins seront les premiers à lui rappeler son passé pour abaisser sa superbe« (S. 283).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ulrich Lappenküper, Rezension von/compte rendu de: Dominique Herbet, Hélène Miard-Delacroix, Hans Stark (dir.), L’Allemagne entre rayonnement et retenue. Préface Alfred Grosser, postface Jérôme Vaillant, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2016, 292 p. (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-1359-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43165