Nach entsprechenden Bänden zur DDR, zu Österreich, der Schweiz, der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland liegt nun auch die Frankreich-Studie vor, die aus dem Forschungsprojekt »Der KSZE-Prozess: Multilaterale Konferenzdiplomatie und die Folgen« hervorgegangen ist. Veronika Heyde beschreibt in einer quellengesättigten Darstellung die Haltung Frankreichs zum Projekt einer Europäischen Sicherheitskonferenz seit der Budapester Erklärung vom 17. März 1969, seine Rolle beim Zustandekommen der KSZE und ihrer Schlussakte sowie bei den Folgekonferenzen von Belgrad 1977 und Madrid 1980 bis 1983. »Frankreich« meint hier in erster Linie den Staatspräsidenten, der die operative Leitung der französischen Außenpolitik für sich in Anspruch nahm. Die verschiedenen Abteilungen des Außenministeriums leisteten, wie die Verfasserin zeigt, nur konzeptionelle Zuarbeit. Im Élysee-Palast entschied eine cellule diplomatique, was der Präsident davon zu Gesicht bekam, und dieser entschied gelegentlich auch gegen den Rat seiner Mitarbeiter. Dabei nahm er auch auf die öffentliche Meinung und die innenpolitische Konstellation Rücksicht; das gilt für alle hier behandelten Nachfolger de Gaulles, in besonderem Maße für Valéry Giscard d’Estaing.
Bemerkenswert ist dabei das hohe Maß an außenpolitischer Kontinuität über die Zeiten und unterschiedlichen ideologischen Prägungen von de Gaulle bis Mitterrand hinweg. Die französischen Präsidenten waren kontinuierlich an Entspannung im Ost-West-Konfikt interessiert und sie begrüßten auch die Europäische Sicherheitskonferenz als eine Gelegenheit, den Zugriff der Sowjetunion auf die Staaten des Ostblocks zu lockern und so dem Ziel einer Überwindung der Blöcke in Europa ein Stück näher zu kommen. In dem Europa unabhängiger und gleichberechtigter Staaten, das sich damit am fernen Horizont abzeichnete, sollte Frankreich die Rolle eines primus inter pares spielen. Allerdings drohten mit der Überwindung der Blöcke auch die Wiedervereinigung Deutschlands und damit eine Infragestellung des französischen Führungsanspruchs. Die Nachfolger de Gaulles hatten es darum mit der Überwindung der Blöcke auch nicht so eilig; sie betrachteten die KSZE auch als ein Instrument, um die »neue Ostpolitik« des deutschen Nachbarn unter Kontrolle zu halten. Giscard d’Estaing ging sogar so weit, den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew bei einem Staatsbesuch im April 1979 explizit zu sagen, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands nicht im französischen Interesse lag.
Wieweit diese Äußerung taktisch bedingt war, muss offen bleiben. Die Klügeren unter Giscard d’Estaings Beratern wussten jedenfalls, dass Frankreich nicht offen gegen die Wiedervereinigung arbeiten durfte: »Si tu crains la réunifcation il faut que tu sois pour car si tu es contre, elle se réalisera contre toi«, so François-Pierre Barbe in einem Meinungsartikel in »Le Monde« vom 16. August 1978 (S. 182). Außerdem sind Meinungsunterschiede über das Tempo zu beobachten, das bei der Verfolgung der Entspannungspolitik zu veranschlagen war. So äußerte sich Pompidous Außenminister Michel Jobert bei der Eröffnung der KSZE-Konferenz am 4. Juli 1973 entgegen den Vorlagen seines Ministeriums äußerst kritisch über die Erfolgsaussichten des Unternehmens, sichtlich besorgt über die Gefahr eines deutsch-sowjetischen Arrangements. Auch sein Nachfolger Jean Sauvagnargues hielt die Gefahren, die das KSZE-Projekt barg, für größer als den Nutzen, den es versprach. Nach dem Wahlsieg François Mitterrands 1981 beeilten sich Beamte des Quai d’Orsay, dem neuen Präsidenten eine äußerst kritische Bilanz der Entspannungspolitik Giscard d’Estaings vorzulegen: Sie habe dem Kreml nur dazu gedient, »in der öffentlichen Meinung des Westens den Anschein [zu] erwecken, ›hoffähig‹ zu sein« (S. 397).
Mit ihrer Auswertung interner Dokumente macht Heyde auch deutlich, dass davon nicht die Rede sein kann. Tatsächlich fungierte Giscard d’Estaing bei seinem Treffen mit Breschnew am 19. Mai 1980 in Warschau nicht als der »kleine Stenograf«, als den ihn Mitterrand im Wahlkampf beschimpfte. Vielmehr warnte er den Kremlchef in unmissverständlichen Worten vor einer weiteren Offensive in Afghanistan und noch mehr vor einer militärischen Intervention in Polen: Dann würde nicht nur das KSZE-Folgetreffen in Mailand scheitern; die Sowjetunion würde dann auch keinen einzigen Partner im Westen mehr fnden, mit dem es die Entspannungspolitik fortsetzen könnte. Angesichts der internen Diskussionen in Moskau, die unterdessen bekannt geworden sind, wird man nicht bestreiten können, dass diese ernste Warnung ihre Wirkung gezeigt hat.
Ein besonderes Verdienst der Untersuchung besteht darin, erstmals die zentrale Rolle Frankreichs beim Zustandekommen der Konferenz über Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) herausgearbeitet zu haben. Sie geht auf eine französische Initiative für konventionelle Abrüstung in Europa vom Atlantik bis zum Ural zurück (das heißt unter Einschluss der sowjetischen Streitkräfte, die im europäischen Teil der Sowjetunion stationiert waren), mit dem Giscard d’Estaing Anfang 1978 dem zunehmenden Druck auf Einbeziehung der französischen Atomwaffen in die Rüstungskontrollverhandlungen begegnen wollte. Zunächst von der sowjetischen Führung abgelehnt und von der amerikanischen Führung als störend empfunden erwies sich das Projekt aber nach dem Scheitern der Belgrader Folgekonferenz als geeignet, den Entspannungsdialog über die Konfrontation in der Frage der Menschenrechte und Grundfreiheiten hinweg zu retten. Am 17. März 1981 akzeptierten die Vertreter der Warschauer-Pakt-Staaten auf der Madrider Folgekonferenz, dass die zukünftige Konferenz über konventionelle Abrüstung »substanzieller und integrierter Bestandteil des KSZE-Prozesses« sein sollte (S. 386). Damit war entschieden, dass sich vertrauensbildende Maßnahmen auch auf das Territorium der Sowjetunion erstrecken würden, auch wenn die Frage einer tatsächlichen Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte noch offen geblieben war.
Hinsichtlich der europapolitischen Dimension der französischen Entspannungspolitik bleibt Heyde etwas widersprüchlich: Einerseits konstatiert sie einen fortdauernden »fundamentalen Widerspruch« zwischen dem Konzept »eines starken, selbstbewussten und autonomen Europas« und dem Zögern bei der »Ausstattung Europas mit den erforderlichen Machtbefugnissen und Zuständigkeiten« (S. 440). Andererseits bestreitet sie aber jeglichen »Wille[n] zur Ablösung nationaler Außenpolitik durch die Vertiefung der europäischen Politik« (S. 441). Dass die europäische Einigung und die Entwicklung einer europäischen Dimension der force de frappe auch dazu dienen sollten, der langfristig als unvermeidlich angesehenen deutschen Wiedervereinigung ihre Gefährlichkeit zu nehmen, wird in der Analyse nicht weiter berücksichtigt. Hinweise darauf sind in der materialreichen Darstellung aber durchaus zu fnden. Sie trägt damit nicht nur zur Erweiterung unserer Kenntnisse der diplomatischen Entwicklung des KSZE-Prozesses bei, sondern auch zu einem besseren Verständnis der Ambivalenzen französischer Entspannungspolitik, die von den Akteuren zu unterschiedlichen Zeiten durchaus unterschiedlich akzentuiert wurden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wilfried Loth, Rezension von/compte rendu de: Veronika Heyde, Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen Sicherheit 1969-1983, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2016, VIII-473 S. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 113), ISBN 978-3-11-051470-4, EUR 59,95., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43168