Immer mehr Diplomaten und Politiker greifen im höheren Alter zur Feder, um ihre Erinnerungen festzuhalten, was für die Forschung ein Gewinn sein kann. Bei dieser Autobiografie ist das der Fall. Es handelt sich um einen engsten Vertrauten von Bundeskanzler Helmut Kohl (1982–1998), der bis zuletzt als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) auch eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der »Flüchtlingskrise« 2015–2016 im Zeichen der weltweiten Migrationsbewegung spielte.
Seiters wurde 1937 in dem vom alliierten Bombenkrieg schwer zerstörten Osnabrück als Sohn eines Postamtsleiters und einer Textilverkäuferin geboren. Kriegsende und Neubeginn erlebte er bewusst mit. Die Jugend war glücklich, zumal er in Bohmte »abseits der schlimmsten Zerstörungen in den deutschen Großstädten« (S. 21) aufwuchs. Am katholischen Gymnasium Carolinum in Osnabrück ging er zur Schule, wo sich schon früh Interesse an historischen und politischen Zusammenhängen zeigte. Nach dem Abitur folgte das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster (1959–1963). In dieser Zeit schloss er sich einer katholisch-wissenschaftlichen Studentenverbindung im Unitas-Verband an. Nachdem bereits ein Jahr zuvor der Beitritt zur CDU erfolgte, war der Weg zur Mitgliedschaft im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) vorgezeichnet. Frühe Erlebnisse mit katholischer Engstirnigkeit und Unduldsamkeit bewegten Seiters tief. Christliche Intoleranz und erzkatholischen Fundamentalismus in eigenen Parteireihen musste Seiters erleben, als es um seine Heirat mit einer geschiedenen Frau ging (S. 50–52).
In der Jungen Union in Niedersachsen erfuhr Seiters die »Lehrjahre eines jungen Politikers« (S. 31–34). Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen (1967) und einer Tätigkeit als Regierungsassessor in Osnabrück (1968–1969) erfolgte mit dem Einzug in den Bundestag der »Sprung in die Bundespolitik«. Bodenständigkeit, Heimat und Familie blieben jedoch für ihn weiter bedeutsam. Eine starke Frau im Hintergrund, die ihm die politische Karriere in Bonn ermöglichte, und ein gutes familiäres Rückzugsfeld im Emsland bildeten ein stabiles Fundament. 1971 wurde Seiters Mitglied des CDU-Bundesvorstandes und bis 1976 agierte er als jüngster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. In der harten Oppositionszeit wirkte Seiters zudem als stellvertretender Landesvorsitzender der CDU Niedersachsen (1972–1998). Das Ringen mit der sozial-liberalen Koalition um die Ostverträge und die dagegen aufgebaute Fundamentalopposition der CDU/CSU sieht Seiters rückblickend nicht mehr so kritisch (S. 71). Das Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums des christdemokratischen Oppositionsführers Rainer Barzel am 27. April 1972 aufgrund zweier gekaufter CDU-Stimmen durch die DDR-Stasi ist auch Thema (S. 69f.).
Als Helmut Kohl nach dem Abgang Barzels die politische Bühne betrat, begann ein neues politisches Kapitel für Seiters, der zum parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (1982–1989) avancierte. Von 1989 bis 1991 war er Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts und von 1991 bis 1993 Bundesminister des Inneren, bis ihn ein umstrittener Vorfall um den Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams auf dem mecklenburgischen Bahnhof Bad Kleinen zum Rücktritt zwang (S. 198–206).
Eindrücklich schildert Seiters die historische Begegnung zwischen Kohl und Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand am 22. September 1984 vor dem Beinhaus von Douaumont, in dem die Knochenreste von rund 130 000 deutschen und französischen Kriegstoten aufgetürmt sind. Minutenlang drückten sich die beiden Staatsmänner die Hand und verharrten in dieser Haltung. Seiters misst dem historischen Handschlag das gleiche Gewicht wie dem Kniefall von Willy Brandt vor dem Mahnmal des Aufstandes der Warschauer Ghetto-Juden bei (S. 82). Zum spannendsten Teil der Publikation gehört die Schilderung der Ereignisse der deutsch-deutschen Einigung, wobei Seiters die Empfindlichkeiten des Auswärtigen Amtes gegenüber dem BKA nicht verschweigt. Im Kontext der Einheit war Seiters auch eine »junge Politikerin« nicht verborgen geblieben: die spätere Kanzlerin Angela Merkel als »Kohls Mädchen« (S. 98–100).
Seiters schildert Begegnungen mit Politikern der noch bestehenden und dann zerbrechenden DDR, unter anderem ein Treffen mit SED-Chef Erich Honecker am 4. Juli 1987, das noch »keinen Hinweis auf die tiefen Erschütterungen [enthielt], die im Laufe der folgenden Wochen in der DDR sichtbar werden sollten« (S. 104). In diesem Gespräch hatte Honecker bei der Erörterung von Fragen der innerdeutschen Grenze eingeräumt, dass es dort tatsächlich einen Schießbefehl gegeben habe, was für Seiters »mehr als überraschend« war, zumal Verteidigungsminister Heinz Keßler »diese Tatsache noch wenige Tage vorher öffentlich geleugnet hatte« (S. 106). Nun gelte aber, so Honecker, ein anderes Grenzregime. Trotz dieser Wendung wirkte sein Gegenüber auf ihn »starrköpfig und realitätsfremd« und als »ein Reformgegner, wie er im Buche stand«. Seine Flucht mit einem sowjetischen Militärflugzeug nach Moskau am 13. März 1991 wollte Kohl nicht mehr verhindern, zumal ihm ein aufwühlendes großes Verfahren in Deutschland gegen den Ex-DDR-Chef nicht gelegen kam, wie Seiters verrät.
Der 30. September 1989 mit der Mitteilung der Ausreisemöglichkeit an die jubelnden DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Prag gehörte zum absoluten Höhepunkt der Erlebnisse von Seiters. Diesen Tag empfand er als »den endgültigen Beginn des Untergangs der DDR« (S. 120). Genscher stand zwar bei der Verkündung dieser Frohbotschaft im Rampenlicht, die Vorarbeit hatte jedoch Seiters ganz wesentlich geleistet.
Der 9. November 1989 mit der Öffnung der Grenzübergänge in Berlin-Bornholmer-Straße war, wie Seiters freimütig einräumt, für Bonn überraschend, wo man »ziemlich unvorbereitet« war (S. 126). Das unter Egon Krenz verabschiedete neue Reisegesetz empörte viele DDR-Bürger wegen seiner Halbherzigkeit. Für Seiters war dieser SED-Politiker »ein Apparatschik« und »vollkommen unglaubwürdig« (S. 137–138). Mit dem neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow war das Verhältnis hingegen ein anderes: Er war zwar ein Kommunist, aber man konnte sich »auf sein Wort verlassen« (S. 138), gleichwohl auch er nur noch »Verwalter eines untergehenden Staatsgebildes« (S. 147) war.
Aufschlussreich ist es, was Seiters über Frankreich im deutschen Einigungsprozess berichtet. Mitterrand habe noch gegen Jahresende 1989 eine »totale Verkennung der Realität« an den Tag gelegt, als er am 20. Dezember die DDR bereiste – ein »recht peinlicher Besuch«, so Seiters. Mitterrand sei »enttäuscht und nachdenklich« nach Paris zurückgekehrt und habe begriffen, »warum ihn die Bundesrepublik vor diesem Besuch ausdrücklich gewarnt hatte«. Diese Erkenntnis habe zur Einsicht geführt, am 4.Januar 1990 in Latché, dem Urlaubsort des Staatspräsidenten, Kohl gegenüber einzulenken, als man »den Grundstein für den gemeinsamen Weg zur Wiedervereinigung« zu legen begann. Mitterrand wollte nun nur mehr noch keinen »überstürzten Wiedervereinigungsprozess« (S. 144–145).
Es gäbe noch viel aus Rudolf Seiters‘ Erinnerungen zu berichten. Mehr muss nicht verraten werden als dass es sich um ein aufschlussreiches, ehrliches, lesenswertes, offenes und spannendes zeithistorisches Dokument eines Mannes handelt, der trotz seines jahrzehntelangen Lebens im politischen Machtgetriebe aufrichtig und bescheiden geblieben ist. Davon legt seine Publikation ein glaubwürdiges Zeugnis ab.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Gehler, Rezension von/compte rendu de: Rudolf Seiters, Vertrauensverhältnisse. Autobiografie, Freiburg i. Br. (Herder) 2016, 265 S., ISBN 978-3-451-34968-3, EUR 24,99. , in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43174