Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes haben sich einem lange Zeit unbeachteten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gewidmet. Steht die Beteiligung der Deutschen Wehrmacht an einem Angriffskrieg Nazideutschlands gegen seine europäischen Nachbarn, die Beteiligung an Kriegsverbrechen an der europäischen Zivilbevölkerung sowie die Durchführung eines ideologisch geprägten Vernichtungskrieges auf dem Gebiet der Sowjetunion außer Frage, so bringt der Blick auf das innere Gefüge dieser Armee immer noch neue Erkenntnisse. Dazu gehört auch das Schicksal der etwa 500 000 sogenannten »Volksdeutschen«, Einwohner der im Zweiten Weltkrieg vom Deutschen Reich besetzten Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens, Polens und Sloweniens, die nach der Besetzung ihrer Heimat von den Deutschen zum Wehrdienst herangezogen wurden. In der Öffentlichkeit ist vor allem das Schicksal der größten Gruppe dieser »Zwangsrekrutierten«, der im deutsch besetzten Elsass und in Teilen Lothringens gegen ihren Willen zum Dienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS eingezogenen französischen Einwohner, der »malgré-nous«, bekannt. Es ist daher ein großes Verdienst der beiden Herausgeber, die Schicksale der westeuropäischen »Zwangssoldaten« aus Luxemburg, den grenznahen Gebieten Belgiens um Eupen und Malmédy sowie den eingezogenen Elsässern und Lothringern den ähnlichen Schicksalen der polnisch stämmigen Einwohner der im Oktober 1939 vom Deutschen Reich annektierten Gebiete Westpolens und der Bewohner des nach der Besetzung des Königreiches Jugoslawien im April 1941 zwischen dem Deutschen Reich, Ungarn und Italien aufgeteilten Sloweniens gegenüberzustellen. Die Beiträge gehen auf eine zweitägige Tagung im Oktober 2012 an der Maison interuniversitaire des sciences de l’homme in Strasbourg und im Mémorial de l’Alsace-Moselle in Schirmeck zurück, auf der ausgewählte Wissenschaftler der betroffenen Länder, die zu diesem Thema forschen, ihre bisherigen Arbeitsergebnisse vorstellten.

Der Band ist in zwei große Kapitel gegliedert. Das erste ist der Durchsetzung der Wehrpflicht in den jeweiligen vom Dritten Reich annektierten Gebieten gewidmet, das zweite lenkt den Blick auf die Erinnerung an die »Zwangsrekrutierung« in den verschiedenen Gebieten seit 1945. Vor allem das zweite Kapitel gibt einen umfassenden Überblick über den zum Teil über Jahrzehnte geführten Kampf der »Zwangssoldaten« um Anerkennung als Opfer der deutschen Besatzungspolitik und die ihnen vielfach verweigerte Anerkennung in den jeweiligen Zivilgesellschaften. Erfolgte diese Anerkennung schon in den westeuropäischen Ländern wie Frankreich, Belgien und Luxemburg erst relativ spät im Zuge der deutsch-französischen Aussöhnung in den 1960er Jahren, blieb die Zwangsrekrutierung in Polen und Slowenien bis zum politischen Wandel in Osteuropa in den 1990er Jahren ein gesellschaftliches Tabu, die Betroffenen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit vielfach juristischen Verfolgungen ausgesetzt und schwiegen später aus Scham und Furcht vor weiteren Strafen. Noch 2005 zeigte im Rahmen des polnischen Präsidentschaftswahlkampfs die Anprangerung des Dienstes des Großvaters des heutigen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, als Soldat in der Deutschen Wehrmacht, dass eine Anerkennung der Zwangsrekrutierungen durch das Deutsche Reich noch nicht in allen Gesellschaften der betroffenen Länder Europas erfolgt war und auch noch weiterhin politischen Zündstoff bieten konnte.

Der auf Französisch und Deutsch herausgebrachte Sammelband wird durch einen informativen einleitenden Überblick über den derzeitigen Forschungs- und Quellenstand zum Thema ergänzt. Karten zu den betroffenen Grenzgebieten geben dem Leser eine gute Orientierung. Der Band stellt damit eine neue Grundlage für die Erforschung dieses auf europäischer Ebene noch weitgehend unbekannten Kapitels der deutschen Militärgeschichte und seiner Folgen für die Betroffenen und die verschiedenen europäischen Nachkriegsgesellschaften dar. Es bleibt zu hoffen, dass ihm weitere, vor allem ausgewählte Einzelschicksale aus den betroffenen Ländern in den Fokus nehmende Arbeiten folgen werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lars Hellwinkel, Rezension von/compte rendu de: Frédéric Stroh, Peter M. Quadflieg (dir.), L’incorporation de force dans les territoires annexés par le IIIe Reich 1939–1945 – Die Zwangsrekrutierung in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten, Strasbourg (Presses universitaires de Strasbourg) 2016, 228 p. (Les mondes germaniques), ISBN 978-2-86820-536-0, EUR 24,00. , in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43176