Am Anfang war das Gesetz: Am 22. Juli 1940 beschloss das Regime von Marschall Pétain die Revision sämtlicher seit 1927 in Frankreich erfolgten Einbürgerungen. Die Dritte Republik hatte das Zuwanderungs- und Naturalisierungsrecht bedeutend liberalisiert. Vichy beabsichtigte, dieser vermeintlich laxen Politik ein Ende zu bereiten und die Umrisse der französischen Staatsbürgerschaft neu zu konturieren. Lange hat die Historiografie das komplexe und vielschichtige Kapitel über den Entzug der Staatsangehörigkeit ignoriert. Dabei bietet diese Geschichte einen faszinierenden Einblick in die Funktionsweise und die Verwaltung des französischen Staates zwischen 1940 und 1944.

Jüngst hat Claire Zalc, Spezialistin für Migrationsgeschichte im Frankreich der Zwischenkriegszeit, eine Studie zu diesem Thema vorgelegt. Auf der Basis von knapp 1000 Einbürgerungsdossiers untersucht sie, wie die staatliche Gesetzgebung in der Praxis umgesetzt wurde und welche Auswirkungen sie für die Betroffenen hatte. Im ersten Kapitel zeichnet Zalc die Geschichte der Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft seit dem Ersten Weltkrieg nach und zeigt, wie der Ausbruch des Krieges 1939 zur Ergreifung verschärfter Maßnahmen führte. Mit der Machtübernahme durch Pétain geriet das liberale Einbürgerungsgesetz vom 10. August 1927 ins Visier des Regimes. Mit dem eingangs erwähnten Gesetz vom Juli 1940 wurde eine Kommission eingerichtet, die alle seither erfolgten Naturalisierungen überprüfen und wo notwendig rückgängig machen sollte. Im zweiten Kapitel zeigt Zalc, dass es mit der Dritten Republik in personeller Hinsicht jedoch zu einer erstaunlichen Kontinuität kam: Die Vorsitzenden und Mitarbeiter der Kommission hatten in der staatlichen Justiz eine beachtliche Karriere gemacht. Der erste Vorsitzende, Jean-Marie Roussel, war Requetenmeister und Kommissionspräsident im Staatsrat. An seiner Seite stand Raymond Bacquart, Staatssekretär, und André Mornet, Staatsanwalt und Berater am Kassationshof. Für die Untersuchung der Naturalisierungsdossiers wurden Beamte des Justizministeriums berufen, die zuvor für die Anträge auf Einbürgerung zuständig gewesen waren.

Die Studie zeigt im weiteren Verlauf, wie groß der Ermessensspielraum der Kommission war. Die Kriterien, die bei der Revision zur Anwendung kamen, fußten auf Informationen, die aus den Einbürgerungsanträgen hervorgingen: Name- und Vorname des Antragstellers oder der Antragstellerin, Nationalität, Geburtsdatum, Datum der Einreise nach Frankreich, Familienstand, Staatsangehörigkeit der Kinder, Beruf und Einkommen. Auf dieser Grundlage wurde das Dossier entweder wieder abgelegt oder aber eine weitere Untersuchung angeordnet. Wie willkürlich dieses Vorgehen war, zeigt Zalc an der Behandlung von Naturalisierten jüdischer Abstammung. Folgte das Vichy-Regime in großen Zügen der antisemitischen Politik des Dritten Reiches und verabschiedete seinerseits im Oktober 1940 ein Rassegesetz, so nahm die Kommission besonders Personen ins Visier, deren Vor- und Nachname auf einen jüdischen Ursprung schließen ließen. Darin gehorchte die Behörde nicht nur dem Druck der deutschen Besatzungsmacht, sondern setzte eine ganz eigene Stigmatisierung durch, die im Übrigen zu zahlreichen Fehlentscheidungen führte.

Die Autorin untersucht weiter, welche Rolle die französischen Präfekten, Unterpräfekten, Bürgermeister und Polizeikommissare in der Durchführung der Revisionsverfahren spielten. Dabei konzentriert sich Zalc besonders auf das Departement Isère und das Departement Vaucluse. Die lokalen Körperschaften wurden angewiesen, die auf ihrem Gebiet lebenden eingebürgerten Personen zu überprüfen. Dieser Teil der Analyse ist besonders interessant, da er ganz unerwartete Erkenntnisse zu Tage fördert: Zalc zeigt auf, welche Fälle die Behörden meldeten und wie gerade in kleinen Gemeinden die soziale Nähe der Magistraten zu den Einwohnern eine umfangreiche Revision eher behinderte. Auch wurde die von der Kommission angestrebte Identifizierung der Juden kaum befolgt.

Diese hatte rund 250 000 Dossiers und 800 000 individuelle Fälle abzuarbeiten. Um diese Masse zu bewältigen, ging die Kommission rasch dazu über, die Arbeit auf mehrere Unterkommissionen zu verteilen. Die Studie hebt hervor, wie die Rationalisierung der Behörde und die Aufteilung des Begutachtungsprozesses auf mehrere Etappen eine unmittelbare Auswirkung auf die Entscheidungsfindung hatte. So war es von den Mitgliedern der jeweiligen Unterkommission abhängig, ob die betroffene Person ihre Staatsangehörigkeit behielt oder ob ihr diese aberkannt wurde. Als Kriterium diente besonders die Herkunft, Einwanderer aus dem Osten Europas galten im Unterschied etwa zu Italienern als nicht assimilierbar. Die in den Präfekturen eingesetzten Ermittler hatten außerdem den Auftrag, Individuen ausfindig zu machen, die es an Moralität und Loyalität gegenüber Frankreich mangeln ließen. Sie nahmen daraufhin politisch aktive Personen ins Visier, denen eine Nähe zu linken Milieus nachgesagt wurde. Auch hatten sie sich die Familienideologie der Nationalen Revolution zu Eigen gemacht, sammelten sie doch besonders Fälle von Männern oder Frauen, die ihre Familie verlassen hatten oder in einem vermeintlich freiwillig gewählten Zölibat lebten.

Deutlich erkennbar war, dass die Kommission die meisten Aberkennungen vornahm, noch bevor das Vichy-Regime in die eigentliche Kollaboration eintrat (Ernennung von Darlan zum Vizepräsidenten im Februar 1941). Darin ließ sich ihr autonomer Charakter ablesen. Die Beamten widmeten sich intensiv der Revision, wobei die Arbeitsteilung zu einer erheblichen Verlängerung der Begutachtungsprozesse führte, mit durchaus ambivalenten Folgen. Zalc verweist auf den Zusammenhang zwischen der Aberkennung der Staatsangehörigkeit und den Deportationen, die mit Beschluss der »Endlösung« zunahmen und von denen besonders ausländische Juden betroffen waren. Die Kommission teilte ihre Informationen mit den zuständigen Polizeieinheiten. Verfahren, in denen erst nach mehreren Jahren ein Urteil gefällt wurde, sorgten einerseits dafür, dass der/die Betroffene spät oder gar nicht ins Visier der Polizei geriet. Oder aber die bei der Präfektur in Auftrag gegebenen Nachforschungen rückten bislang unerkannt gebliebene Personen in das Fadenkreuz der Ermittler. Rund 15 000 Menschen wurde in Frankreich zwischen 1940 und 1944 die Staatsangehörigkeit entzogen, davon waren circa 40% Juden. Einspruch hatte nur selten Aussicht auf Erfolg, wie Zalc zeigt. Zum Ende ihrer Studie lenkt sie den Blick auf die Betroffenen und weist deren Argumentationsmuster auf, mit dem sie ihre Verbundenheit zur französischen Nation unter Beweis zu stellen suchten.

Das große Verdienst von Claire Zalc besteht nicht nur darin, ein bisher völlig vergessenes Kapitel aus dem Vichy-Frankreich in den Vordergrund zu rücken. Er gelingt ihr, durch die Anwendung quantitativer Methoden einen repräsentativen Querschnitt von der Arbeit der Kommission zu geben und darin zugleich das komplexe Wechselspiel zwischen den Behörden auf lokaler und nationaler Ebene, zwischen den Vertretern des Pétain-Regimes und der deutschen Besatzer aufzuzeigen. Die Studie rückt das Dossier in den Mittelpunkt, erkennt die behördliche Akte als einen Ort komplexer Kommunikations- und Entscheidungsprozesse, die eine Vielzahl von Akteuren einbezog und an deren Ende die betroffenen Bürgerinnen und Bürger standen. Diese wurden von heute auf morgen zu Ausländern und vielfach zu Opfern der von Deutschland aus in Gang gesetzten und in Frankreich weitergeführten Tötungsmaschinerie.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Axel Dröber, Rezension von/compte rendu de: Claire Zalc, Dénaturalisés. Les retraits de nationalité sous Vichy, Paris (Éditions du Seuil) 2016, 402 p. (L’univers historique), ISBN 978-2-02-132642-0, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2017/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43178