Visions of unity scheinen im Königreich Spanien nicht überall hoch im Kurs zu stehen. Jedenfalls zeigt der eskalierte Konfikt um die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen, dass das nationalstaatliche Fundament Spaniens ins Wanken geraten ist. Dies hat sicherlich auch historische Gründe und so wird, wer wie Ksenia Bonch Reeves das Spannungsverhältnis zwischen unity and diversity als zentrales Thema der spanischen Geschichte ansieht (vgl. S. 230) und um die Bedeutung identitätsstiftender Erzählungen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft weiß, in dem anzuzeigenden Buch eine anregende Lektüre fnden.
In ihrer Studie widmet sich die an der Wright State University (Ohio) lehrende Hispanistin der lateinischsprachigen Geschichtsschreibung auf der Iberischen Halbinsel im Zeitraum vom Ende des Westgotenreichs bis zur Mitte des 13.Jahrhunderts, wobei sie vier zeitlich aufeinanderfolgende und in eigenen Großkapiteln behandelte Erzähltraditionen unterscheidet: die mozarabische, die asturische, die leonesische und die kastilische. Das der Untersuchung zugrundeliegende Textcorpus (Übersicht auf S.XIVf.) besteht vorwiegend aus chronikalischen Werken, aber auch einzelne hagiografsche Texte wurden berücksichtigt.
In der ausführlichen Einleitung plädiert Bonch Reeves dafür, die iberische Geschichtsschreibung unter einer »post-national optic« (S. 41) und in einem größeren geografschen Rahmen, nämlich dem des gesamten Mittelmeerraumes, zu betrachten. Die Begriffe »Spain« und »Iberia«, die nicht frei von »modern-day ideological colouring« (S. 41) seien, möchte die Verfasserin in erster Linie geografsch verstanden wissen. Ihr post-nationaler Ansatz stellt im 20. Jahrhundert vorherrschende Geschichtsbilder und Meistererzählungen wirkmächtiger Historiker wie Ramón Menéndez Pidal († 1968), Américo Castro († 1972) oder Claudio Sánchez-Albornoz († 1984) in Frage, denen trotz großer Unterschiede gemeinsam war, dass sie die Einzigartigkeit der spanischen Geschichte und Kultur herausarbeiteten. Dagegen knüpft Bonch Reeves, wie im Unterkapitel »Rethinking Uniqueness« (S. 37–41) deutlich wird, eher an die jüngere, stärker vergleichend arbeitende Forschung an, welche die spanische Geschichte in größere, europäische Zusammenhänge stellt.
Die für den Leser hilfreiche Positionsbestimmung der Verfasserin und auch der im ersten Hauptkapitel »The Epic’s Poor Cousins: Mediaeval Iberian Latin Chronicles in Twentieth-Century Philology« (S. 47–69) gebotene konzise Forschungsbericht zur spanischen Chronistik sind mit weitem forschungsgeschichtlichem Horizont geschrieben und basieren auf breiter Kenntnis der internationalen Literatur. Nicht berücksichtigt worden zu sein scheint lediglich die deutschsprachige Forschung, insbesondere neuere einschlägige Arbeiten zu den Mozarabern und den historiografschen Werken des Rodrigo Jiménez de Rada1.
Die Fruchtbarkeit von Bonch Reeves’ Ansatz zeigt sich insbesondere in den beiden Hauptkapiteln zu den mozarabischen Chroniken des 8.Jahrhunderts (»The Mozarabic Chronicles, Islam, and the Mediterranean Apocalyptic«, S. 71–111) und den hagiografschen Schriften rund um die Märtyrer von Córdoba aus der Mitte des 9.Jahrhunderts (»Between the Emirate and the Holy Land: Eulogius of Córdoba, the Culture of Martyrdom, and the Ideology of Iberian Cohesion«, S. 113–152). Durch die Analyse der Erzählstrukturen vermag die Verfasserin deutlich zu machen, wie sehr diese Texte mit ihren apokalyptischen und zum Teil prophetischen Anklängen Geschichtswerken aus der byzantinischen Welt ähneln, insbesondere aus von Arabern bedrohten bzw. eroberten Randgebieten in Syrien und Armenien. Zwar kommt man bei der Suche nach gemeinsamen Quellen bzw. der Frage, wie die byzantinischen Texte auf die Iberische Halbinsel vermittelt worden sein könnten, nicht über Vermutungen hinaus, doch ist die offenkundige Adaption byzantinischer Traditionen durch die Mozaraber, die im Buch als »highly cosmopolitan and informed community« (S. 111) präsentiert werden, per se ein wichtiger Befund. Zeigt dies doch, dass im 7. und frühen 8.Jahrhundert unter muslimische Herrschaft geratene Christen in Ost wie West ihre Geschichte in ähnlicher Weise deuteten.
Keinen völligen Bruch mit dem mozarabischen »apocalyptic framework« (S. 159) stellten die Chroniken dar, die seit dem 9. Jahrhundert im Norden der Halbinsel im christlichen Königreich Asturien entstanden und teilweise mit mozarabischen Texten zusammen überliefert wurden. Allerdings blieb die asturische Historiografe nicht bei apokalyptischen Klagen über den Untergang des Westgotenreichs stehen, sondern propagierte vor allem dessen Erneuerung. Im Kapitel »Visigothic Law, Sovereignty, and North-Eastern Iberian Political Rivalry in the Asturian Chronicle Tradition« (S. 153–194) setzt Bonch Reeves insofern neue Akzente, als sie den Neogotizismus des asturischen Königreichs als politische Strategie versteht, um sich gegen konkurrierende Machtzentren im iberischen Norden (Königreich Pamplona, Grafschaft Barcelona, Herrschaft der Banū Qasī im Ebrotal) zu behaupten und die Eigenständigkeit bzw. Gleichrangigkeit gegenüber dem Frankenreich zu festigen. Dabei habe das junge asturische Königtum seine Legitimität als Erneuerer des Westgotenreiches nicht nur aus der genealogischen Sukzession bezogen – diese hätten auch andere iberische Herrschaften für sich in Anspruch nehmen können –, sondern vor allem aus dem Anspruch, wirklicher Bewahrer des westgotischen Rechts und Rechtsfriedens zu sein.
Die Kapitel 5 »Revisiting the Reconquest in Eleventh- and Twelfth-Century Leonese Chronicles: A Holy War or a Just War?« (S. 195–222) und 6 »Toward a Philosophy of Unity in Rodrigo Jiménez de Rada’s Historia de rebus Hispanie« (S. 223–260) betrachten die leonesisch-kastilische Geschichtsschreibung im langen Zeitraum von der Verlegung des asturischen Königssitzes nach León (914) bis ins 13.Jahrhundert hinein. Kritisch hinterfragt wird dabei das in der Forschung einst vorherrschende Paradigma der »Reconquista« im Sinne eines »centuries-long struggle against Islam, which laid the foundation of Spain’s uniqueness« (S. 197). Dagegen betont Bonch Reeves, dass in den Narrativen der leonesischen Chroniken der Kampf gegen die muslimischen Reiche Spaniens zumeist nicht als heiliger Krieg und schon gar nicht als universale, christliche Auseinandersetzung mit dem Islam dargestellt wurde, sondern eher in machtpolitischen Kategorien als Befriedung von Rebellen, welche die expandierende leonesische Königsherrschaft bedrohten. Eine religiöse Deutung dieser Kämpfe lasse sich in den Chroniken erst in Folge der cluniazensischen Reformierung der spanischen Kirche nachweisen und auch dann nur vereinzelt. Wirklich verbreitet sei dieses Konzept erst im 13.Jahrhundert gewesen, nachdem die christlichen Reiche und insbesondere die kastilische Krone ein deutliches Übergewicht auf der Iberischen Halbinsel erlangt hatten. Die kastilische Vormachtstellung habe sodann zu einer neuen, bis heute nachwirkenden Geschichtskonzeption geführt, die vor allem vom großen Geschichtsschreiber und Toledaner Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada († 1247) verwirklicht wurde, der die tradierten mozarabischen und asturischen Narrative marginalisierte bzw. manipulierte (vgl. S. 250f.), um sowohl die Einheit Spaniens unter kastilischer Führung zu propagieren als auch die kirchliche Vormacht Toledos auf der Iberischen Halbinsel zu festigen.
Ksenia Bonch Reeves ist eine pointiert geschriebene und facettenreiche Zusammenschau geglückt, die in vielen Aspekten neue Sichtweisen vertritt und sicherlich zu weiteren Forschungsdiskussionen führen wird. Man spürt das Bemühen, die Zeitgebundenheit älterer Forschungsparadigmata aufzuzeigen und diese zu überwinden. Allerdings mag man sich fragen, ob die optimistische Einschätzung, die heutige Forschung agiere »outside the confnes of all-encompassing paradigms« (S. 68), nicht etwas zu gewagt ist, oder anders gesagt: Könnte das in diesem Buch identifzierte und als »reconciling unity and diversity« (vgl. z. B. S. 11, 230, 262) umschriebene Leitthema spanischer Geschichte und Geschichtsschreibung nicht ebenfalls viel über unsere eigene Zeit aussagen?
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Daniel Berger, Rezension von/compte rendu de: Ksenia Bonch Reeves, Visions of Unity after the Visigoths. Early Iberian Latin Chronicles and the Mediterranean World, Turnhout (Brepols) 2016, XVI–286 p. (Cursor Mundi, 26), ISBN 978-2-503-56509-5, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43268