Reise-Forschungen interessieren die Mediävistik schon länger, haben aber im Zuge des Spatial Turn eine neue Dynamik gewonnen: Neue Zugriffe werden ausprobiert und neue Fragen gestellt, wie das auch im vorliegenden Band der Fall ist. Die Klammer der geografisch, chronologisch und auch disziplinär weitreichend aufgestellten Beiträge ist – so die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung (»Medieval Routes: Journeys through Space and Scholarship«) – der explizite Blick auf den tiefen Graben, der zwischen mittelalterlichen und modernen Raumwahrnehmungen und Weltverständnis liegt. Sämtliche sehr unterschiedliche Fallstudien zeigen einen geschärften Blick auf die Gefahren, die sich auftun, wenn moderne Vorstellungen allzu sehr unsere Fragen leiten. Berücksichtigt wird nicht zuletzt – und das ist besonders hervorzuheben, weil es immer noch zu selten geschieht – die Möglichkeit von hermeneutischer Gleichzeitigkeit von realer und symbolischer Reise, die in unserem Sinne Uneindeutigkeit und die Unfestgelegtheit des Verständnisangebotes, das etwa mittelalterliche Reiseberichte ihren Rezipienten machen. Der Blick fällt so ohne Entscheidungszwang für die »richtige« Lesart auf die zahlreichen Ebenen und Facetten, die mittelalterlichem Reisen im Verständnis der Zeitgenossen natürlich innewohnten.

Der Band besteht aus drei Kapiteln nach der Einleitung, die grundsätzlich geografisch bestimmt sind und insgesamt chronologisch eine Kernzeit zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert mit einem Ausflug ins 4. und Ausblick bis ins 15. Jahrhundert abdecken. Alle Aufsätze bewegen sich im »mittelalterlichen Europa«, zu dem – entgegen der Bestimmung der Editoren – doch auch das Heilige Land zu zählen ist, zumal in der Epoche der beiden relevanten Fallstudien das Heilige Land tatsächlich unter »europäischer« Herrschaft stand. Pilger dorthin sind aus unterschiedlicher Perspektive Thema des ersten Kapitels (»The Way through the Book: Routes around the Holy Land«). Ralph Bockman betont die prägende Wirkung der in Jerusalem errichteten konstantinischen Bauten für die gesamte christliche Welt des 4.Jahrhunderts (»Framing Sanctity: The Staging of Holy Places as Initiation for Christian Pilgrimage in Constantinian Jerusalem«). Elizabeth Jane Mylod untersucht für die Bedeutung Jerusalems in der lateinischen Welt fast tausend Jahre später in einer Zeit, als nach den frühen Kreuzzügen noch einige Küstenplätze, nicht aber mehr Jerusalem in lateinischer Hand waren, zwölf Pilgerführer und fünf Pilgerberichte (»Routes to Salvation: Travelling through the Holy Land, 1187–1291«). Das zweite Kapitel schließt an mit drei Beiträgen zu Süditalien/ Sizilien – Durchgangsgebiet für »Migration« zu allen Zeiten – in einem engen Zeitraum zwischen 1000 und 1200, aber mit Blick auf sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen unterwegs (»Migrants, Colonisers, Travellers, and Geographers in the Landscapes of Southern Italy«). Paul Oldfield liefert grundlegende methodische Überlegungen zu den besonderen mittelalterlichen Parametern von Migrationsforschung (»Problems and Patterns in Medieval Migration: The Case of Southern Italy, 1000–1200«) – und kennzeichnet den für die Region und Zeit wichtigen »Mythos der Normannen«, deren Erschließung des physischen Raums im Süden im Abgleich mit der Normandie sich Leonie V. Hicks in ihrem Beitrag anhand von Fremd- und Selbstbeschreibungen zuwendet (»Journeys and Landscapes of Conquest: Normans Travelling to and in Southern Italy and Sicily«). Jean-Charles Ducène blickt ergänzend auf die Quelle für Wege, die der vom Normannenkönig beauftragte arabische Geograph Idrisi dem Mediävisten bieten kann (»Routes in Southern Italy in the Geographical Works of al-Idrīsī«).

Im abschließenden dritten Kapitel (»The Route and the Journey: Problems in the Reconstruction of Itineraries and Routes in North-West Europe«) wechselt der Schauplatz nach Thüringen und Großbritannien/Nordfrankreich, und hier finden sich die einzigen zwei bis drei Beiträge, die nicht Randlandschaften »Europas« im Mittelalter betreffen: Thüringen in der Ottonenzeit muss man wohl – anders als im Spätmittelalter – als Randlandschaft der Christianitas sehen, ebenso wie die Begrenzung der Itineraruntersuchungen Edwards I. auf die Britischen Inseln ohne Berücksichtigung der »französischen« Teile seines Reiches eine (vielleicht typische?) englische Sichtweise des eigenen Mittelalters unterstreicht. Pierre Fütterer greift die Pfalz Dornburg an der Saale aus dem sächsisch-thüringischen Herrschaftsschwerpunkt der Ottonen heraus, um das Wegenetz der Zeit anhand der Reisen von und zu zentralen Orten zu erfassen (»Routes around the Royal ›Pfalz‹ of Dornburg on the River Saale, central Germany, in the Tenth and Eleventh Centuries«). Christian Oertl kann im deutlich königsferneren spätmittelalterlichen Thüringen für die Besitzungs-Organisation des Deutschen Ordens ebenfalls Grundsätzliches zur Wegeforschung beitragen (»Road Networks, Communications, and the Teutonic Order: A Case Study from Medieval Thuringia«). Julie Crockford wählt die Jahre aus der Herrschaft des englischen Königs Edwards I. (1272–1307), in denen er ohne Kriegszüge weitgehend selbstbestimmt seine Reisewege und -zwecke habe wählen können (»The Itinerary of Edward of England I: Pleasure, Piety and Governance«). Abschließend spezifiziert Paul Webster bei seinem königlichen Beispiel Johann I. (1199–1216) dessen kleinere und größere religiöse Reisestationen, eingebettet in das Gebet für den König (»Making Space for King John to Pray: The Evidence of the Royal Itinerary«). Abgerundet wird der Band – der reichhaltig mit Karten, Tabellen, Grafen und Abbildungen ausgestattet ist – durch ein willkommenes Namensregister.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Felicitas Schmieder, Rezension von/compte rendu de: Alison Gascoigne, Leonie V. Hicks, Marianne O’Doherty (ed.), Journeying along Medieval Routes in Europe and the Middle East, Turnhout (Brepols) 2016, XII–296 p., 15 ill. (Medieval Voyaging, 3), ISBN 978-2-503-54173-0, EUR 85,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43278