Der Titel des Buches ist eher nichtssagend, doch das Buch hat es durchaus in sich. Es ist ein gelungener Versuch, die persönlichen und intellektuellen Ambitionen einer um die Mitte des 18.Jahrhunderts lebenden Landadligen, Madame de Marans, geborene Henriette-Marie-Francoise Edme, aufzuzeigen und sie in den Kontext sozialer und v. a. kultureller Strömungen der Zeit zu stellen. Das Ziel der Verfasserin ist es, einen Beitrag zur Geschichte weiblicher Handlungsmöglichkeiten in dieser Zeit zu leisten, ausgehend von Überlegungen zur Mikrogeschichte, wie sie Giovanni Levi als einer ihrer wirkungsvollsten Vertreter schon in den 1980er Jahren angestellt hat, dass nämlich gerade Einzelschicksale sehr viel Aussagekraft haben für makrohistorische Zusammenhänge, sei dies im Positiven, sie dies im Negativen, also kritisch gegenüber der »großen Erzählung«. Hier ist die »große Erzählung« die vom Ausschluss der Frauen aus der Gelehrtenwelt der Aufklärung und aus der Sphäre der politischen Entscheidungen im Frankreich des 18.Jahrhunderts.

Madame de Marans, die »ambitionierte« Zeitgenossin Montesquieus, Voltaires und Rousseaus, deren Werke sie kannte und las, hat eine Reihe von Selbstzeugnissen und Briefkorrespondenzen hinterlassen und 1758 sogar einige ihrer Reflexionen – anonym – unter dem Titel »Pensées errantes« veröffentlicht, denen sie mit den daran anschließenden »Lettres d’un Indien« einen Briefroman im Stile von Montesquieus »Lettres persanes« folgen ließ. Dass dieses Werk lange einer anderen »ambitionierten«, aber längst vergessenen Autorin, einer gewissen Madame de Bénouville zugeschrieben wurde, zeigt nur umso mehr, wie wenig außergewöhnlich die belesene Madame de Marans tatsächlich war, die zwar in Paris das Licht der Welt erblickte, aber ihr recht langes Leben fast ausschließlich auf den Familiengütern nahe Vendôme verbrachte. Immerhin siedelte einer ihrer jüngeren Brüder auf der Suche nach einem auskömmlichen Leben in die westindischen Kolonien über, wo er es tatsächlich zu einigem Reichtum brachte und von wo er mit seiner Schwester eine umfangreiche Korrespondenz führte, die ihrerseits die Basis für die »Lettres d’un Indien« bildeten. Eine andere wichtige Briefpartnerin war seine Tochter, Pascalitte Edme de Rouaudières de Vanssay, die Madame de Marans aufzog, in ihrem regionalen Bekanntenkreis verheiratete und mit der sie fast täglich über die kleinen und großen Dinge des Lebens korrespondierte. Sie war es wohl auch, die dafür sorgte, dass die zahlreichen Schriftstücke und Selbstzeugnisse Madame de Marans erhalten blieben, im Gegensatz zu denen vieler anderer Frauen des 18. Jahrhunderts, die aus Gründen der Schicklichkeit häufig den Flammen und damit dem Vergessen übereignet wurden.

In systematischer Kleinarbeit legt Mathilde Chollet zunächst die Familiengeschichte der Edme wie auch die der de Marans offen und stellt die Rahmenbedingungen des landadligen Alltags im Vendômois dar, in denen Madame de Marans ihr eher unspektakuläres Leben verbrachte. Doch ist dies nur die Bühne, der materielle Hintergrund gleichsam für das, was die Verfasserin weit mehr interessiert, nämlich die Erziehung und Bildung der Frauen der »petite noblesse provinciale« des 18.Jahrhunderts und deren Interessen und Ambitionen. Wie hat Madame de Marans sich die Kenntnisse und Fähigkeiten verschafft, Tagebuch zu schreiben und dort die verschiedensten Themen – Literatur, Wissenschaften, Medizin, Politik usw. – zu behandeln? Und was hat sie dazu motiviert, was hat sie sich davon versprochen und erwartet? Dieser Hauptfragestellung entsprechend gliedert sich der Band in drei Teile: Im ersten Teil steht die Frage im Mittelpunkt »Comment les savoirs viennent aux femmes?«, im zweiten geht es um die Suche nach der eigenen Position und Identität der Tagebuchschreiberin: »Journal et identité, da la quête personelle à la revendication sociale«, und im dritten Teil schließlich um eine Einordnung der Beobachtungen in das »große Ganze«: »Les choix d’une ambitieuse? L’admirable normalité de Madame de Marans«.

Tatsächlich zeigen bereits die Ausführungen im ersten Teil, dass zwar die Erziehung im Frauenkloster bzw. in der Klosterschule der Ursulinen auch im Vendômois vor allem in den gesellschaftlichen Eliten üblich war – ähnlich, wie auch die Knaben in die Jesuitenkollegien geschickt wurden –, und dass religiöse Inhalte dem Lehrplan ebenso angehörten wie etwa »weibliche Handarbeiten«, v. a. das Sticken. Jedoch gab es durchaus auch alternative Bildungsangebote und -möglichkeiten, die sich jedoch eher für Autodidaktinnen empfahlen, wie es Madame de Marans selbst eine war, die sich in ihren autobiografischen Texten als ebenso hingebungsvolle wie neugierige Leserin erweist. Sie war im Übrigen der Meinung, das Kloster sei der Ort, an dem »toutes les erreurs qui entachent l’éducation des jeunes filles« begangen würden und zog diesem andere Bildungsmöglichkeiten, etwa durch Privatunterricht vor. Insgesamt zeigt sich jedoch auch in ihrer Korrespondenz die von der Forschung bereits konstatierte Tendenz, den Kindern gleich welchen Geschlechts eine möglichst gute Erziehung angedeihen zu lassen: »L’éducation est un programme familial, mais aussi un programme social, qui ne vise rien moins que le bonheur des individus formés: c’est un système dans le gôut de l’époque, jouant sur les réseaux et la mise en valeur des atouts familiaux (S. 42).

Denn weniger als um formale Bildung geht es hier um die Fähigkeit, sich in Gesellschaft gut benehmen und mitreden zu können. Tatsächlich ist die conversation denn auch »la source et la finalité des journaux personnels de Mme de Marans« – und lässt sich damit als Praxis der individuellen wie v. a. auch der kollektiven Identitätsbildung beschreiben, wie die Verfasserin im zweiten Teil deutlich macht. Das erklärt letztlich sowohl die häufig wenig tiefgehenden und eklektizistischen Überlegungen und Reflexionen der Tagebuchschreiberin ebenso wie ihr Interesse an den großen tagespolitischen Ereignissen und Skandalen: Die Auflösung des Pariser Parlaments und das Exil der Parlamentarier in die Provinz (auch im Vendômois) oder das Verbot und die Vertreibung des Jesuitenordens aus Frankreich 1762: »Mme de Marans est une compilatrice; lorsqu’elle extrait, elle n’a pour seules ambitions que celles de se cultiver et se distraire utilement« (S. 192).

Und tatsächlich sind der Antiklerikalismus der Mme de Marans ebenso wie ihre literarischen Ambitionen in den Augen der Verfasserin weniger Ausweis einer individualisierten Weltsicht, sondern zeugen eher von der »admirable normalité de Mme de Marans« (S. 205). In vieler Hinsicht lassen sich nämlich die Äußerungen und Vorstellungen, aber auch die Alltagspraktiken, die Madame de Marans in ihren Tagebüchern beschreibt, mit denjenigen anderer Frauen – und Männer! – ihrer Zeit und ihrer sozialen Schicht vergleichen, oder genauer, es ist gerade die konsequente Kontextualisierung aller Bemerkungen und Beobachtungen, die erst diese »admirable normalité« der Protagonistin erkennen lassen und erklären helfen.

So bietet die vorliegende Studie denn in der Tat die unschätzbare Möglichkeit, mit den Ambitionen und Schreibpraktiken einer französischen Landadligen aus der Mitte des 18.Jahrhunderts auch ein höchst differenziertes Bild der französischen Gesellschaft der Zeit zu erhalten. Dass dieses Bild sehr viel weniger von Geschlechterdifferenzen, als von sozialen Differenzierungen geprägt ist, dafür ist das vorliegende Buch ein ausgezeichneter Beleg – und dass es auch noch sehr gut lesbar, anschaulich und überzeugend argumentiert ist, erhöht seinen Wert noch zusätzlich!

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Claudia Opitz-Belakhal, Rezension von/compte rendu de: Mathilde Chollet, Être et savoir. Une ambition de femme au siècle des Lumières, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2016, 302 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-5125-1, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43376