Der anzuzeigende Sammelband hat unaufdringlich-offziellen Charakter. Die Bundesrepublik begeht das Reformationsjubiläum bekanntlich als »Lutherdekade« und hat dazu einen 24-köpfgen wissenschaftlichen Beirat mit illustren Namen berufen. An dessen Spitze steht ein Katholik, der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio; er ist mit dem Kieler Kirchenhistoriker Johannes Schilling der Herausgeber von Aufsätzen, die untersuchen, »wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat«. Dazu hat der Bundestag schon 2011 den Weg gewiesen, als er die Reformation in einer parteienübergreifenden Entschließung zu einem »Ereignis von Weltrang« erklärte. Über die Notwendigkeit solcher erinnerungspolitischer Signale kann man unterschiedlicher Meinung sein. Jedenfalls zeigt Ulrike Jureit in ihrem Beitrag, der den Band beendet, wie die Aktualisierungsbemühungen von heutigen Politikern und Werbetextern, aber auch von Kirchenvertretern von der Reformationszeit und ihren Botschaften wegführen, deren Fremdheit und Zumutungen Gefahr laufen, in einem wohlmeinenden Reden über Freiheit und Toleranz unterzugehen.

Mit »unserer Welt« im Untertitel ist implizit die deutsche gemeint, denn fast alle Beiträge fokussieren auf Mitteleuropa. Unvermeidlich darüber hinaus geht allein Dorothea Wendebourgs Beitrag über die »weltweite Verbreitung des Protestantismus«. Sie korrigiert den Kapiteltitel gleich selbst dahingehend, dass – anders als beim Katholizismus – nicht so sehr die eigene Konfession exportiert und Einheimischen auferlegt wurde, sondern protestantische Gläubige selbst, die – deutlich später als bei den iberischen Kolonialmächten – ab dem 17.Jahrhundert in nichtchristliche Regionen gelangten, ohne diese notwendigerweise zu missionieren. Das passierte erst seit dem 18.Jahrhundert im ersten und zweiten »Great Awakening« der Freikirchen in Nordamerika, die sich programmatisch an Schwarze und Indianer wandten. Eine eigentliche protestantische Missionswelle gab es erst im 19.Jahrhundert, als im englischen und deutschen Sprachraum sowie in Skandinavien zahlreiche Missionswerke entstanden.

Der gegenwärtig beste und produktivste Kenner der Reformationsgeschichte, Thomas Kaufmann, gibt einleitend einen klaren und gut verständlichen historischen Überblick über das Ereignis und erinnert eingangs auch an den nationalstaatlichen Missbrauch des Reformationsgedenkens in den letzten beiden Jahrhunderten. Wie so oft, wenn das Wort »zweifellos« verwendet wird, kann man Zweifel anbringen, ob der Erfolg der Bewegung tatsächlich davon abhing, dass das Wormser Edikt gegen Luther selbst nicht durchgesetzt werden konnte: »Wäre er exekutiert worden, wäre dies zweifellos das Ende der Reformation gewesen« (S. 43). Das Hussitentum kam mit dem Feuertod von Jan Hus auch nicht an sein Ende, obwohl der Buchdruck für die Verbreitung der Lehre noch nicht zur Verfügung stand. Und als Luther nach dem Wormser Reichstag auf der Wartburg und damit von der Bühne verschwand, nahm die Bewegung weiter ihren Lauf. Wohl wirkten Karlstadt, die Zwickauer Prediger, Zwingli und andere süddeutsche Reformatoren nicht im Sinne Luthers, aber gerade die eigenständige und weitreichende Art, wie sie seine Impulse im polyzentrischen Reich weiterentwickelten, zeigt die frühe Eigendynamik der reformatorischen Bewegungen, die weniger von ihrem Vordenker als von weltlichem Schutz abhing. Auf diesen konnten viele Reformatoren in den Städten und bald schon bei Fürsten zählen, welche das landesherrliche Kirchenregiment aus guten theologischen ebenso wie materiellen Gründen anstrebten.

Auch Stefan Rhein formuliert mit der Schlussthese »Ohne Wittenberg keine Reformation!« kontrafaktische Überlegungen: Gerade die Überschaubarkeit der lokalen Verhältnisse habe es erlaubt, alle wesentlichen Akteure in das gemeinsame Anliegen einzubinden. Ähnlich atmet Thomas Södings Beitrag über die Lutherbibel die herkömmliche »Pulverfasstheorie«, für die Luthers individuelles Wirken entscheidend dafür gewesen sei, dass die korrupte alte Kirche in die Luft gefogen sei. Auch hier könnte man die Vielfalt der Bewegung betonen: Gewiss wirkten die ersten Teile von Luthers Bibelübersetzung etwa auf die Zürcher Reformatoren, doch überholten diese die Wittenberger, sodass 1529 alle Bücher auch des Alten Testaments vorlagen und 1531 in der ersten gedruckten Vollbibel der Reformation bei Froschauer erschienen.

Über den theologischen Reformwillen hinaus stellt sich die Frage nach der »Weltwirkung« der Reformation vor allem insofern, als sie immer wieder und auch in diesem Buch als Voraussetzung der Moderne gesehen wird. Christoph Strohm betont im Bereich der Jurisprudenz die Vorreiterrolle der lutherischen und vor allem reformierten Protestanten gegenüber den Katholiken, für die eine Ausdifferenzierung der juristischen aus der theologischen und moralischen Sphäre weit schwieriger war – zumal an den dominierenden jesuitischen Universitäten. Udo di Fabio sieht die Selbstbindung (an eine Methode und konkret an das Prinzip »sola scriptura«) als Bedingung fürdie Freiheit von herkömmlichen Autoritäten. Das habe die Reformation vorgemacht, sei aber auch sonst für die Neuzeit typisch.

Detlef Pollack konfrontiert den reformatorischen Bruch in seiner Deutung als emanzipatorischen Fortschritt hin zu individueller Freiheit (Trutz Rendtorff) und als dekadente Fragmentierung der mittelalterlichen christlichen Einheit (Brad Gregory). In seinem ausführlichen Vergleich mit dem Mittelalter datiert Pollack den entscheidenden Wandel zur Moderne in Aufklärung und Sattelzeit, erkennt aber wichtige Impulse (»sola fde«, Freiheit des Gewissens) für die Ausbildung einer Individualität an, die sich von weltlich-religiösen Autoritäten zu lösen verstand. Etwas anachronistisch wirken Pollacks Zweifel daran, dass Pluralisierung und ein religiöser »Markt« durch die Glaubensspaltung ebenfalls einen mächtigen Schub erlebt hätten. Das musste ja keineswegs als »Arena eines freien Wettbewerbs« (S. 107) geschehen: Die unfaire und oft auch unfriedliche Konkurrenz von Reichsständen unterschiedlicher Konfession, mit Theologen und Universitäten, führte ein völlig neuartiges Moment der Binnendifferenzierung ein. Erst recht geschah dies beim Zerfall des Abendlands in eine europäische Staatenwelt, in der England oder Schweden ebenso klar und exklusiv konfessionell verortet waren wie die Habsburger in Spanien und Österreich und viele andere mehr.

Dieser Sammelband will und kann trotz seinem ambitiösen Titel nicht ein Handbuch darstellen, sodass es unziemlich wäre, auf Lücken hinzuweisen. Er begleitet auf wissenschaftlichem Niveau und dennoch zumeist allgemeinverständlich einen kirchlichen und staatlichen Gedenkreigen und dokumentiert damit auch selbst das Spannungsverhältnis, in dem solche Veranstaltungen unweigerlich stehen. Als Hinführung zur Reformation und zum Gedenken daran ist das Buch allemal geeignet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thomas Maissen, Rezension von/compte rendu de: Udo Di Fabio, Johannes Schilling (Hg.), Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, München (C. H. Beck) 2017, 213 S., 9 Abb., 2 Kt. (C. H. Beck Paperback, 6261), ISBN 978-3-406-70078-1, EUR 16,95., in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43377