Der im thüringischen Mühlhausen – genauer gesagt im dortigen von Helge Wittmann geleiteten Stadtarchiv – beheimatete, interdisziplinäre und internationale Arbeitskreis für Reichsstadtgeschichte legte in seiner vierten Veröffentlichung seit Bestehen wiederum eine für die Urbanistik und die Reichsgeschichte in Teilen wegweisende Publikation vor. Im Jahr 2017 der kulminierenden Reformationsjubiläumspublizistik musste auch diese Veröffentlichung ihr eigenständiges Profl klar zeigen und reichsstädtische Spezifka deutlich artikulieren. Im Vorwort hätte deshalb der geneigte Leser besser mehr erfahren zu den konkreten Zielen des Arbeitskreises im Kontext europäischer Stadtgeschichtsforschung und über die Förderkriterien der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, die erneut sowohl die Tagung als auch die Publikation fnanziell maßgeblich unterstützte. Stattdessen erscheint im Vorwort ein Memorandum zum Tod des 2016 verstorbenen, verdienten Hamburger Archivars und Historikers Dr. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt. Nachrufe handelt man besser nicht im Vorbeigehen in einem Vorwort ab!

Die 2016 stets zur Faschings-/Karnevalszeit vorausgehende Tagung hatte sich nach der Konzeption ihrer Organisatoren zum Ziel gesetzt, die Frage zu klären, wie sich gerade in Reichsstädten mit ihren besonderen Verfassungsverhältnissen religiöse Pluralität in religiöse Dissonanz und schließlich zu religiösen Konfikten wandeln konnte. Der Wandel sakraler Pluralitäts- bzw. Homogenitätsvorstellungen des 16. (und 17.) Jahrhunderts war zu analysieren und »diachron« im Erfahrungskontext zu beschreiben. Letzteres wurde keineswegs von allen Autorinnen und Autoren eingelöst; zeitlich am Weitesten holte Andrea Rotte in ihrem Beitrag zur Parität in der schwäbischen Reichsstadt Biberach 1649 bis 1825 (S. 315–362) aus.

Der französische Historiker Gérald Chaix (»Reichsstadt und Konfession«, S. 125–138), der bis 2002 an der Universität François-Rabelais in Tours lehrte und das dortige renommierte Centre d’études supérieures de la Renaissance leitete, erfüllte die Erwartungen der Leserschaft mit Blick auf die spezifsch städtische Prägung der europäischen Konfessionsentwicklung am ehesten. Dort wurde all das angesprochen, was man auch in der Vorbemerkung des im helvetischen Fribourg lehrenden Thomas Lau (»Reichsstadt im Religionskonfikt«, S. 9–20) statt eines archäologischen Grabungsberichts (S. 9) in dem nordöstlich der türkischen Stadt Şanlıurfa gelegenen Wallfahrtsort Göbekli Tepe gerne erfahren hätte. Der Bogen wird bei Chaix von Arthur G. Dickens viel zitiertem Statement »The German Reformation was an urban event« über Bernd Möllers »Reichsstadt und Reformation« bis hin zu den Konfessionsklassikern aus der Feder von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling gespannt. Reichsstädte erscheinen dabei als »Versuchslabore« der Konfessionalisierung. Inhaltlich fankiert wurde Gérald Chaix’ Beitrag vom Altmeister der Reformations- und Konfessionsgeschichte Wolfgang Reinhard (»Reichsstadt und Reformation«, S. 101–110), der nochmals betonte, Arthur G. Dickens’ Formel von 1974 – »die deutsche Reformation war ein städtisches Ereignis« – sei gut begründet gewesen.

Greifen wir einige lohnende Aspekte der Neuerscheinung heraus. Zur lange vernachlässigten Kontinuitätsthese zwischen den spätmittelalterlichen Kirchenreformen und der Reformation, die der emeritierte Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm wiederholt anmahnte, nehmen im Band überraschend wenige Autoren Stellung. Zu den Ausnahmen zählen hier Andreas Willershausen (»Die Reichsstädte der Wetterau im Zeitalter der Hussitenkriege, 1419–1431 – Religiöse und militärische Aspekte«, S. 43–76) und Ingrid Würth (»Reichsstadt und Häresie im Spätmittelalter«, S. 77–100). Flankiert wurden die Epochenzäsur (Mittelalter, Neuzeit) verbindenden Beiträge durch die Einbeziehung des Spannungsfeldes zwischen jüdischen Gemeinden und den reichstädtisch-christlichen Handels- und Kirchengemeinschaften. Für die jüdische Gemeinde in der Reichsstadt Heilbronn, die seit 1050 nachweisbar ist, verdeutlichte dies Christian Schrenk (»Juden in der Reichsstadt Heilbronn«, S. 21–42). Zum Genius loci, dem von schweren Auseinandersetzungen in der Reformationszeit geprägten Mühlhausen, dessen Rat dann endlich 1577 die lutherische Konkordienformel unterzeichnete und dessen Größe mit circa 10 000 Einwohnern Ende des 15.Jahrhunderts durchaus beachtlich war, präsentiert der Band zahlreiche neue Aspekte. Dazu zählen im Kern die Überlegungen von Helge Wittmann (»Cujus corpus in hanc incorruptus inter Heterodoxos sub humo latitat Mühlhusii – Der hl. Hermann als katholischer Erinnerungsort in der protestantischen Reichsstadt Mühlhausen«, S. 253–287) und die von Thomas T. Müller (»Frühreformation und Bauernkrieg – Die Thüringer Reichsstädte Nordhausen und Mühlhausen im Vergleich«, S. 161–176).

Es ist das berechtigte Anliegen des Arbeitskreises, die gerade von der Landesgeschichte stets eingeforderte Komparatistik auch für die Städtelandschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu instrumentalisieren. Zur politischen Städtelandschaft zählten neben den Reichsstädten die vor allem im »königsfernen« Norden verbreiteten Freien Städte. Für Westfalen exemplifzierte dies Werner Freitag (»Autonomiestädte und Reich im Zeitalter der Reformation –Das Beispiel Westfalen«, S. 111–124). Ferner gab es in diesen Städten eine auch konfessionspolitisch hinterlegte Streitkultur über die Frage, welche reichsunmittelbaren Klöster und Stifte aus dem Rats- und Steuerverbund ausscherten. In dieser Frage wurden vermehrt das Reichskammergericht und der Reichshofrat zur Urteilsfndung angerufen, so auch in Essen. Christian Helbich (»Reichsunmittelbarkeit und ius reformandi im Reichskammergerichtsprozess zwischen dem Stift und der Stadt Essen 1568–1670«, S. 225–252) verwies darauf für Stadt und Stift Essen, dessen Äbtissin Irmgard von Diepholz (reg. 1561–1575) 1568 eine Klage gegen die gleichnamige Stadt in Speyer einreichte. Wie stand es nun mit dem eingeforderten Städtevergleich? Zu einseitig wird er der rezipierenden Leserschaft überlassen, wenn zu oft die eine näher untersuchte Stadt im Fokus steht. Vergleichend im Methodischen, monourban in der Ausführung sind dabei die Autoren Michael Matthäus (»Die Reformation in Frankfurt – Zwischen Kaisertreue und Protestantismus«, S. 177–204) und Thomas Kirchner (»Welchem Kaiser gehorchten die Aachener? Beziehungen zum Stadtherrn während eines reichsstädtischen Religionskonfiktes«, S. 205–222) vorgegangen, indem sie sich mit Loyalitätsproblemen der Reichsstädte nach der Reformation zum jeweiligen Reichs- und Stadtoberhaupt beschäftigten.

Der im Michael Imhof Verlag mit erkennungsmarkantem Cover-Gelb ausgestattete, mit Orts- und Personenregister versehene und auch im Textteil ansprechend gestaltete Band wird durch die Einbeziehungen von Religions- und Stadtkonfikten mit Glaubensfüchtlingen, Nonkonformisten und »Sektierern« (Täufer, Pietisten) abgeschlossen. Zwei Beiträge wurden hierzu aufgenommen, die Rolf Hammel-Kiesow (»Glaubenspolitik im Vergleich – Die Aufnahme von Glaubensfüchtlingen in Hamburg und Lübeck im späten 16. und 17. Jahrhundert«, S. 289–314) und Hanspeter Jecker (»Täufertum und Pietismus als Herausforderung für Obrigkeit und Kirche in Bern 1650–1720«, S. 363–382) verfassten. Derjenige André Krischers (»Vormoderne Städte und ihre Religionskonfikte – Eine Rückschau«, S. 383–388) ist am Ende eher enttäuschend als inspirierend.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Wüst, Rezension von/compte rendu de: Thomas Lau, Helge Wittmann, Gérald Chaix (Hg.), Reichsstadt im Religionskonfikt. 4. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte. Mühlhausen 8. bis 10. Februar 2016, Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2017, 400 S., zahlr. Abb. (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 4), ISBN 978-3-7319-0457-1, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43379