Der unter der bekannten Phrase »Noblesse oblige« erschienene Sammelband nimmt sich zur Aufgabe zu erforschen, welche Verpflichtungen sich der frühneuzeitliche Adel zugeschrieben hat und wie das (Selbst-)Verständnis der adeligen Identität sowie politische, religiöse Verpflichtungen sie zu bestimmten Verhaltensweisen animierten. Die Aristokratie und der Hof des Ancien Régime waren schon oft Gegenstand historischer Forschung und haben jüngst durch die Forschungen von Jeroen Duindam und Leonhard Horowski neuen Aufschwung erhalten.1 In diese Reihe gliedert sich der vorliegende Sammelband nahtlos ein. Wie Nicolas Le Roux in seiner Einleitung präzisiert, zielt der Sammelband nicht auf eine systematische Analyse des Adels als soziale Kategorie als solche ab, sondern will vielmehr einzelne fundierte Einblicke ermöglichen, um einen Überblick dieser facettenreichen Gesellschaft zu zeichnen. Damit dieser Vielfalt gerecht werden kann, findet eine Aufteilung in drei Hauptteile statt: (1) »Des identités mouvantes«, (2) »Fidelités et réseaux« und (3) »Honneur et engagements«.
Die beiden Beiträge des ersten Hauptteils werfen einen Blick auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse des frühneuzeitlichen Adels. Elié Haddad bezieht sich dabei auf die Ebene der französischen noblesse d’épée, während Martin Wrede einen kursorischen Vergleich des gesamteuropäischen Adels hinsichtlich seiner sich verändernden Identität zieht, der sich durch sowohl durch Vielfalt als auch die Gemeinsamkeit der Dysfunktionalität definiert. Haddad arbeitet mittels zeitgenössischer Diskurse die Entstehung und Veränderung des Begriffs »noblesse d’épée« als soziale Distinktionskategorie in Reaktion auf die aufkommende Konkurrenz zur noblesse de robe heraus. Trotz der erwünschten Differenzierung der noblesse d’épée kann Haddad konstatieren, dass sich Mitglieder beider Adelsstände innerhalb von aristokratischen Familien auffinden ließen.
Der zweite Teil des Sammelbandes geht auf die vertikalen und horizontalen Beziehungen frühneuzeitlicher Adeliger hinsichtlich Treue und Netzwerke ein. Anne Motta nimmt sich des Sonderfalls des lothringischen Adels an, der im 17.Jahrhundert aufgrund der Unsicherheit schaffenden Politik des Herzogs in ein Spannungsfeld zwischen adeliger Identität, Werten und einem facettenreichen Verständnis von adeliger Treue gerät. Motta zeigt erst, wie die Identität des alten Adels bedroht wurde, um als Konsequenz seine variierenden Strategien kenntlich zu machen, um seine Machtposition und seine Identität bewahren zu können. Sébastien Schick betrachtet exemplarisch die Netzwerkbildung von Friedrich-Wilhelm von Grumbkow am preußischen Hof unter Friedrich-Wilhelm I. und verdeutlicht, dass die gegebenen Analysestrukturen für zentralistische Monarchien hier nicht greifen, sondern die Pluralität der Identitäten von Akteuren ein alternatives Modell zur Analyse dieser komplexen Beziehungsgeflechte bietet. Christian Kühner nimmt wiederum die Beziehungen zwischen Adeligen am zentralistischen Hof Ludwigs XIV. in Betracht, die als Freundschaften galten: Freundschaft entsprach freilich nicht der heutigen privaten und intimen Beziehung, sondern implizierte gegenseitige politische Unterstützung, wobei sich diese in der Konkurrenz belasteten höfischen Arena oftmals als schwierig erwies. Nichtsdestotrotz kann Kühner mehrere Praktiken der frühneuzeitlichen Freundschaft ausmachen.
Im dritten Teil werden die Ehre und die adeligen Verpflichtungen in mehreren Beiträgen abgehandelt. Stéphane Gal und Paul Vo-Ha setzen sich genauer mit dem adeligen Verständnis der Ehre Ende des 16., Anfang des 17.Jahrhunderts auseinander, wobei Gal anhand gegensätzlicher Polemiken hervorhebt, inwieweit der Konflikt zwischen dem französischen König Heinrich IV. und dem savoyischen Herzog Charles-Emmanuel und der daraus entstandene Vertrag von Lyon (1601) zwei unterschiedliche Konzeptionen von Ehre projizieren konnten. Von Frankreich wurde der Sieg als Schande und Degradierung Heinrichs IV. wahrgenommen, weil er sich mit einem Widersacher unter seinem Stand und seiner Würde auseinandersetzte. Aus der Perspektive Savoyens stellte die gesamte Situation hingegen eine soziale Erhebung und einen Reputationszuwachs Charles-Emmanuels dar. Gal stellt heraus, welche spezifische Rolle den Alpen und ihren Bewohnern als Argument für oder gegen die Ehre in den Schriften zukommt. Vo-Ha analysiert die militärischen Pflichten eines französischen Gouverneurs – maßgeblich zur Regierungszeit Ludwigs XIV. – und wie diese im Zusammenhang mit seiner Ehre standen. Dabei zeigt er, wie schmal die zu meisternde Gratwanderung war, weder einen Angriff mit zu verheerenden Folgen zuzulassen noch eine übereilte Kapitulation zu riskieren: In beiden Fälle konnte das eingesetzte soziale Kapital, die Ehre, verloren werden. Agierte der Gouverneur den gesellschaftlichen und königlichen Ansprüchen entsprechend, so konnte sein Einsatz auch zu militärischen Ruhm führen. Aubrée David-Chapy konzentriert sich hingegen auf die Verpflichtungen der weiblichen Regentinnen Anne de France und Louise de Savoie, wobei sie zwischen der Ethik, Praktiken, Rhetorik sowie Symbolik und Allegorien des engagements der beiden Regentinnen unterscheidet. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Regentschaft als ein Akt der Liebe, Aufopferung und Frömmigkeit und als Dienst für die Krone dargestellt wurde, um das Königreich für den abwesenden oder unmündigen König zu bewahren und zu schützen. Die verwendete Rhetorik diente vor allem dazu, die Legitimität ihrer Regierungsausübung zu rechtfertigen.
Fraglich bleibt nur, inwiefern der durchaus lesenswerte Beitrag von Laurent Vissière über den Einfluss, den die gesammelten Erfahrungen der Italien-Expeditionen auf das Leben des Adeligen Louis II de La Trémoille hatten, sich in den Sammelband eingliedert, da er verglichen mit den drei anderen Beiträgen des dritten Teiles weder die Ehre der Adeligen noch ihre adeligen Verpflichtungen thematisiert. Jene Beeinflussung der aristokratischen Kultur in Frankreich durch die italienische Kultur und die Konsumierung italienischer Güter zu Beginn der Frühen Neuzeit, die Vissière aus dem seltenen und bemerkenswerten Quellenfund der Rechenbücher de La Trémoille erarbeiten konnte, scheinen vielmehr in die erste Partie über den Wandel einer aristokratischen Identität zu passen.
Insgesamt konzentriert sich der Sammelband mehr auf die französische Aristokratie: Während Wrede den Adel unter gesamteuropäischer Perspektive betrachtet und Schick die Verflechtungen des preußischen Adels unter Friedrich-Wilhelm I., befassen sich die anderen Beiträge maßgeblich mit dem frühneuzeitlichen Adel der französischen Monarchie, wobei die einzelnen Tiefenbohrungen die zeitliche Bandbreite der Frühen Neuzeit in Gänze abdecken: Vissière und David-Chapy betrachten den Adel um 1500, wohingegen Schick, Wrede und Haddad auch den Adel gegen Ende des 18.Jahrhunderts in ihre Forschungen miteinbeziehen. Trotz der Fokussierung auf Frankreich stellt der Sammelband einen bereichernden und lesenswerten Beitrag zur Adels- und Hofforschung dar, indem er seinem Anspruch gerecht wird und anhand verschiedener Ebenen, Aspekte und Fallbeispiele die Vielfalt sowohl der aristokratischen Verpflichtungen als auch des Selbstverständnisses sowie der Entwicklung adliger Identität aufzeigt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephanie Bode, Rezension von/compte rendu de: Nicolas Le Roux, Martin Wrede (dir.), Noblesse oblige. Identités et engagements aristocratiques à l’époque moderne, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2017, 198 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-5259-3, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43380