»Der lutherische Urknall« betitelte 2015 der Elsässer Martin Graff ein launiges Büchlein, in dem er »Die Franzosen und die Deutschen« einem Vergleich unterzog1 . Demnach seien die Unterschiede zwischen beiden Völkern, die er liebens- und nicht selten auch diskussionswürdig schildert und interpretiert, auf Leben und Werk Luthers zurückzuführen. Näherhin hätten Franzosen und Deutsche mit, neben, gegen und trotz Luther unterschiedliche Wege eingeschlagen, die ihre Gegenwart bestimmen. Das dürfte dann doch etwas monokausal gedacht sein. Richtig daran ist, dass Luthers Leben und Denken – die man freilich im Gesamtzusammenhang der Reformation, ihrer Vor- und Nachgeschichte verstehen muss – Folgen zeitigten, die je nach Kontext sehr unterschiedlich sein konnten.

Im Jahr des Reformationsjubiläums kann deshalb dankbar auf die epochale Summe der Lutherstudien von Graffs elsässischem Landsmann Marc Lienhard, emeritierter Straßburger Kirchengeschichtler, ehemaliger Präsident des Direktoriums der Kirche des Augsburger Bekenntnisses im Elsass und in Lothringen (ECAAL) und nicht zuletzt ausgewiesener Lutherspezialist, verwiesen werden. Zu den vielen Vorzügen der Arbeitsweise Lienhards wie seiner Ergebnisse gehört nicht zuletzt, im besten Sinne des Wortes »deutsch-französisch« zu sein und gleichzeitig den Blick »von innen« wie von »außen« (in kirchlicher, kultureller, sprachlicher, historischer und theologischer Hinsicht) einzunehmen.

Lienhards opus magnum kann man in ganz unterschiedlicher Weise präsentieren, analysieren und bewerten. Zunächst handelt es sich bei den zehn Kapiteln, die in insgesamt 50 Unterkapitel gegliedert sind, um eine geradezu enzyklopädische Darstellung von Leben und Werk des Reformators. Das erste Kapitel bietet einen kurzen biografischen Überblick, charakterisiert den Menschen Luther und verfolgt dessen Entwicklung vor 1517. Das zweite Kapitel widmet sich den Quellen und Traditionen, mit und in denen Luther lebte und dachte. Im dritten Kapitel stellt Lienhard die Methode Luthers in ihrem spezifischen Ineinander persönlicher und theologischer Dimensionen und Positionen vor. In engem Zusammenhang damit werden im vierten Kapitel Verortung und Zielrichtung der so sich gleichsam an der Schnittstelle von intimster Spiritualität und größtmöglicher Öffentlichkeit ereignenden und aufgrund dieses Ereignischarakters gerade in ihrer Partikularität umfassenden Theologie Luthers analysiert. Die zentralen Themen, denen sich Luther dabei zuwendet (Gott-Vater, Christus, Heiliger Geist, Mensch, Gesetz und Evangelium, Rechtfertigung und Glaube, Wort und Sakrament, Kirche, Zwei-Reiche-Lehre, Tod und Eschatologie) werden im zentralen fünften und längsten Kapitel behandelt. Diese systematisch-theologische Entfaltung wäre unvollständig ohne das folgende sechste Kapitel, in dem Luthers Theologie als existentielle Theologie charakterisiert wird, die nicht ohne Glaube, Gebet und Zeugnis zu denken ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen die im siebten Kapitel unvoreingenommen dargestellten »sujets qui fâchent« (S. 455) – Papst, Bauernkrieg, Haltung gegenüber Juden und Muslimen – umso zeitbedingter. Dass Luther nicht nur Kind seiner Zeit war, sondern sich auch mit seiner Zeit geändert hat, thematisiert das achte Kapitel, das ausgesprochen kurz ist. In der Gegenüberstellung von Kontinuität und Wandel gelingt Lienhard hier auf wenigen Seiten ein Kurzporträt eines durchaus nicht widerspruchsfreien Christenmenschen, der unter den gegebenen geistlichen und gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen und mit den ihm zur Verfügung stehenden menschlichen und theologischen Mitteln Jesus Christus zum Zentrum seines Lebens und Denkens machen wollte. Das neunte Kapitel kann daran anschließen, wenn der Platz Luthers in der Geschichte aufgezeigt wird. Im abschließenden zehnten Kapitel tritt der so nüchtern-akribische Historiker Lienhard gleichsam in einen (bereits in früheren Kapiteln erkennbaren) tiefgründigen spirituellen Dialog mit seinem Glaubensbruder, dessen Anliegen er umsichtig und engagiert in die heutige Situation übersetzt.

Drei Beobachtungen sollen genügen, um die Bedeutung des Werks zu charakterisieren. Erstens kann Lienhard in dieser »Summa« nicht nur aus einer ungeheuren Detailkenntnis schöpfen, er erweist sich auch als exzellenter Lehrer, der in klarer, eingängiger Sprache Ergebnisse darlegt, begründet, zusammenfasst und für weitere Ausblicke öffnet. Zweitens ist durchgängig die umfassende Kenntnis gerade auch der deutschsprachigen Lutherforschung der vergangenen Jahrzehnte bis in die Gegenwart hinein hervorzuheben. Dieser »deutsch-französische« Hintergrund, der sich in den Literaturangaben, aber mehr noch in der noblen Präsentation und Diskussion von Ergebnissen und Hypothesen der verschiedenen Lutherforscher und -forscherinnen manifestiert, macht das Werk für Frankophone zur wohl besten Einführung in das Denken ihres jenseits des Rheins doch recht unbekannten Nachbarn Luther, aber auch zu einer unverzichtbaren Bereicherung für deutschsprachige Historikerinnen und Historiker sowie Theologinnen und Theologen, die Lienhard in einen geschärften Blick auf manches nur scheinbar allzu Bekannte einführt. Drittens ist die im gerade skizzierten Aufbau ersichtliche Art und Weise bemerkenswert, Luther sowohl konsequent zu historisieren als auch die geschichtliche Dynamik zu würdigen, aufgrund derer eine Historisierung allein weder Luther noch der Geschichte gerecht werden würde. Lienhard gelingt es durchgehend, die Positionierungen und Positionen Luthers in die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge einzubetten und zugleich in ihrer historisch- wie systematisch-theologischen Bedeutung auszuleuchten. Dabei geht er so umsichtig vor, dass dieses große Buch geradezu als eine kompakte historisch-theologische Luther-Enzyklopädie gelten kann, die dank eines ausgezeichneten Registers schnellen Zugriff auf verlässliche und perspektiveneröffnende Orientierungen bietet.

Eine solche Orientierung ist umso wichtiger, als Luther nach wie vor Anlass zu allerlei »gefühlter« Wahrheit im Stile des Büchleins von Martin Graff bleibt. Diese kann übrigens durchaus auch ein Thema einer Theologie sein, die Voraussetzungen und Implikationen gesellschaftlich wirksamer Narrative nicht nur (was nötig ist) historisch-kritisch korrigiert, sondern auch (was noch nötiger ist) theologisch-konstruktiv bedenkt. Dass Luther zu denken gibt und wie dies wissenschaftlich kompetent und gesellschaftlich relevant aufgearbeitet werden kann, zeigt jedenfalls eindrücklich Lienhards Meisterwerk. Es dürfte im französischen Sprachraum auf lange Sicht schwierig bleiben, eine Luther-Einführung zu finden, die daran auch nur heranreicht. Auch aus deutschsprachiger Sicht ist das Buch ein gelungener Beitrag zum Reformationsjubiläum, in dem der schmale Grat zwischen Historisierung und Aktualisierung sich als eine besondere Herausforderung für die Zukunft nicht nur des lutherischen Christentums erwiesen hat. Beiderseits des Rheins kann das Buch so auch als ein Zeugnis lutherischer Spiritualität gelten, das säkularen Zeitgenossinnen und -genossen die lutherische Konfessionskultur nahebringt und Christenmenschen in anderen Konfessionskulturen nachhaltig zu denken gibt.

1 Martin Graff, Der lutherische Urknall. Die Franzosen und die Deutschen, Kehl 2015.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Quisinsky, Rezension von/compte rendu de: Marc Lienhard, Luther. Ses sources, sa pensée, sa place dans l’histoire, Genève (Labor et Fides) 2016, 681 p., ISBN 978-2-8309-1605-8, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43381