Der britische Historiker Tom Scott, Spezialist für den Südwesten des Reiches zur Zeit von Reformation und Bauernkrieg, wendet sich erstmals explizit der Eidgenossenschaft und deren Verhältnis zu den Nachbarn zwischen 1460 und 1560 zu. Er konzentriert sich dabei auf zwei regionale Fallstudien, auf die Habsburger im Nordosten und die Savoyer im Südwesten.
Die eidgenössische Expansion im Nordosten gegen die Habsburger (Kapitel 1–12) stellt Scott weniger als Folge einer einheitlichen Politik, denn als Resultat unterschiedlicher Bestrebungen und Zufälle dar. Die Zusammenarbeit der sieben Kantone im 1460 eroberten habsburgischen Thurgau gestaltete sich nicht nur schwierig, weil viele Herrschaftsträger (der Bischof von Konstanz und der Abt von St.Gallen, die Städte Konstanz, Zürich, St.Gallen und einzelne Bürger und süddeutsche Adelige) ihre Rechte behielten, sondern auch aufgrund der Uneinigkeit der Eidgenossen. Die vielen Konflikte komplizierten sich dadurch, dass umgekehrt eidgenössische Städte und Herren über Rechte und Einkünfte nördlich des Rheins verfügten. Diese Gemengelage blieb auch nach dem mit dem Basler Frieden (1499) beendeten Schwabenkrieg, der in Schwaben Schweizerkrieg heißt, bestehen.
Und trotzdem machte, wie Scott unterstreicht, die zuvor typische aggression nun einer accommodation (Übereinkunft) Platz. Zu weiteren Kriegen in Form von Raubzügen, Scharmützeln und Belagerungen zwischen den Eidgenossen, Habsburg und dem süddeutschen Adel kam es nicht mehr – und dies trotz risikoreicher Situationen wie dem Bauernkrieg 1524–1526, der Reformation, der Unterwerfung von Konstanz durch den Kaiser (1548) oder der Vertreibung und Rückkehr des mit den Eidgenossen verbündeten Herzogs Ulrich von Württemberg (1519–1534).
Für das Verhältnis zu Savoyen, Scotts zweitem Beispiel (Kapitel 13–29), passt der Titel »Accommodation« allerdings vor dem 17.Jahrhundert gar nicht. Über vielfältige Burgrechte pflegten etwa Bern und Fribourg seit dem 13.Jahrhundert mit einzelnen Städtchen oder Herren in der weitgehend savoyischen heutigen Westschweiz, aber auch mit dem Herzog von Savoyen selbst engere Kontakte. Waren die Eidgenossen ursprünglich vor allem am Salz der Franche Comté interessiert, so verschob sich der Fokus aufgrund des Erwerbs gemeiner Herrschaften in der Waadt im Gefolge der Burgunderkriege (1474–1477) und infolge der Neutralisierung der seit 1493 habsburgischen Freigrafschaft 1511/1512 nach Süden, wie die neuen Burgrechte mit den Städten Genf und Lausanne (1519–1526) zeigen.
Die letztlich durch die »Eroberung« der Waadt 1536 erfolgte Westausdehnung analysiert Scott auf mehreren Ebenen. Die ehemals savoyische Stadt Fribourg suchte primär einen Zugang zum Genfer See bei Vevey, war aber seit der Hinwendung Genfs zur Reformation nicht mehr am Schutz der Rhonestadt interessiert (Aufgabe des Burgrechts 1534), auch weil die zahlreichen Genfer Bürger mit Burgrecht in Fribourg katholisch blieben. Bern dagegen wolle die alten Beziehungen zu Savoyen nicht leichtfertig gefährden. Als eine Aktion der reformatorischen Solidarität mit Genf will Scott den Feldzug nicht sehen, denn die Berner behandelten Genf in Sachen Brandschatzzahlungen wesentlich unnachgiebiger als Savoyen. Zudem spricht die (nachträgliche) Teilnahme Fribourgs und des Wallis – beide katholisch – gegen das konfessionelle Argument. Berns Hauptgrund für den Feldzug sei es vielmehr gewesen, Genf vor dem französischen König zu schützen, der sich gerade anschickte, Savoyen zu erobern. Insofern nutzte die Aarestadt einen für sie günstigen Moment in der langen Auseinandersetzung zwischen den Valois und den Habsburgern um Italien (1494–1559), um ein Gebiet an sich zu ziehen, das sie seit den Burgunderkriegen immer wieder durch Schutzgeldzahlungen ausgebeutet hatte. Nach den vielen Kriegs- und Raubzügen savoyischer und waadtländischer Adeliger, französischer und italienischer Söldner war die Waadt beim Eintreffen der Besatzer eine ausgeplünderte Landschaft.
Auf knapp 180 Seiten liefert Scott klassische Politik- und Diplomatiegeschichte, die sich vor allem auf eine akribische Lektüre von Verhandlungsakten, Verträgen, Burgrechten und Briefen stützt. Neben den gedruckten Quellen zum savoyischen Staat und vielen edierten Korrespondenzen wertet er insbesondere die Eidgenössischen Abschiede aus, ohne allerdings auf die in den letzten Jahren wiederholt diskutierten quellenkritischen Mängel dieser »Edition« einzugehen; ergänzend zieht er ausgiebig Archivalien aus den Staatsarchiven Bern, Fribourg, Solothurn und Zürich sowie aus Archiven in Karlsruhe, Konstanz und Rottweil heran. Wenn der Band trotz der traditionellen Thematik, Methode und Quellenbasis einen frischen Zugang vermittelt, dann aufgrund des gradlinigen und metaphernreichen Erzählstils, der Sensibilität für wirtschaftliche Faktoren und des eigenwilligen geografischen Zugangs: er lässt die in der Historiografie so dominanten Italienzüge weitgehend aus. Dementsprechend zeigen die Karten entweder die Ostschweiz bis zur Reuß (S. 8, 14) oder die Westschweiz bis zur Aare (S. 63, 70, 82).
Insgesamt versteht es Scott sehr gut, aus bekannten Quellen und Fragestellungen (territoriale Expansion, Grenzziehung, Staatsbildung) auch ohne theoretischen Ballast neue Funken zu schlagen. Dies gelingt ihm dank seiner umsichtigen Analyse der Vorgänge aus den Perspektiven der verschiedenen Akteure, dank seinem großen Wissen über politische Konstellationen und – historisch immer offene – Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen (Europa, Eidgenossenschaft, lokale Herrschaftsträger) sowie dank einer klugen Gewichtung der Rolle der Reformation und der Konfessionalisierung.
Natürlich kann man fragen, ob der Autor nicht vielleicht die allgemeine Bedeutung der italienischen Kriege für diese Zeit oder des (völlig unterschlagenen) Dijonerzuges 1513 bei der Diskussion um Neuchâtel unterschätzt (S. 96–99). In der reichhaltigen Bibliografie mit Titeln in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache finden sich auffällige Lücken: So führt etwa das Fehlen der neuen Gesamtdarstellungen zur Schweizer Geschichte der letzten Dekade1 zu einem antiquierten Bild der Forschungslage.
Auch für Scott ist die Eidgenossenschaft nicht entlang einer republikanischen Theorie entstanden, sondern vielmehr durch Pragmatismus und Flexibilität zu einem politischen System (polity), aber nicht zu einem Staat geworden (S. 175). Den Effekt der Burgunderkriege sieht er in der Herausbildung einer »kollektiven Identität« der Eidgenossen, die sich aber lediglich in patriotischen Narrativen, nicht jedoch im Entstehen von Institutionen manifestiere (S. 177). Hier übersieht Scott allerdings Resultate neuerer Forschungen2 und damit zum Beispiel auch, dass sich genau während und aufgrund dieser Kriege die Tagsatzung seit den 1470er Jahren zu der wichtigsten und aktivsten Institution der Eidgenossenschaft verfestigte. Scotts Urteil überrascht umso mehr, als es wohl nur wenige Bücher gibt, die öfter Tagsatzungsabschiede zitieren als »The Swiss and their Neighbours«.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Würgler, Rezension von/compte rendu de: Tom Scott, The Swiss and Their Neighbours, 1460–1560. Between Accommodation and Aggression, Oxford (Oxford University Press) 2017, XV–219 p., ISBN 978-0-19-872527-5, GBP 55,00. , in: Francia-Recensio 2017/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43397